Banken und "Nackte Straßen"

Es war in den 1980er Jahren. Da unternahm der damals für Straßensicherheit in den nördlichen Provinzen der Niederlande zuständige Hans Mondermann interessante Versuche, die Straßensicherheit zu verbessern: An bestimmten, verkehrsmäßig zentralen Punkten in drei Städten wurden Verkehrsschilder, Ampeln, Straßenbegrenzungen und andere den Verkehr regelnde Einrichtungen abgeschafft.

Mondermann sagte dazu: „Die meisten Ingenieure tendieren dazu, etwas Zusätzliches zu installieren, wenn es ein Sicherheits-Problem gibt. Mein Instinkt ist dann immer, etwas weg zu lassen.“ Seine Überlegung war, dass die Verkehrsteilnehmer beim Fehlen von (anonymen) Regelungen aufmerksamer, vorsichtiger und umsichtiger unterwegs sein werden.

Die Erfahrungen mit solchen „nackten Straßen“ gaben Mondermann recht, u.a. ging die Zahl der Unfälle zurück. Ähnliche Erfahrungen wurden in Dänemark und Schweden gesammelt. Die Unsicherheit der Verkehrsteilnehmer, wer Vorrechte hat, führt einerseits zu reduzierter Geschwindigkeit, andererseits zwingt es sie, auf die anderen zu achten, sich abzustimmen. Mondermann: „Man kann von Verkehrsschildern und Straßenmarkierungen nicht erwarten, dass sie ein solches Verhalten fördern. Das muss in die Straßenführung eingebaut werden.

Wenn ein Verkehrsteilnehmer sein Verhalten nicht mehr durch eine anonyme Autorität (Vorfahrtsregelung und dergleichen) gedeckt sieht, muss er Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Und muss darauf vertrauen, dass andere das genauso handhaben. Die Beteiligten müssen sich abstimmen, interagieren. Dies wiederum fördert die Übernahme von Verantwortung und das Vertrauen darauf, dass andere genauso handeln.

Was lässt sich daraus für die Wirtschaft und v.a. die Finanzindustrie ableiten?

Stichwort (De-)Regulierung: Der „U.S. Banking Act“ von 1933 begrenzte die Aktivitäten von Geschäftsbanken auf dem Feld des Investment-Bankings – bis 1999, als dieser „Glass-Steagall Act“ offiziell aufgehoben wurde. Das war allerdings mehr ein formaler Akt, die Regulierung war in den Jahren zuvor (ab 1984) bereits löchrig wie ein Schweizer Käse geworden. Aber damit wurde der Weg endgültig frei für Finanz-Supermärkte und eskalierende Bilanzhebel und schließlich für die im Herbst 2008 platzende Kreditblase.

Die Deregulierung im Straßenverkehr à la Mondermann hatte positive Auswirkungen – die Zahl der Unfälle sank, der Verkehrsfluss wurde meist verbessert. Die Deregulierung im Finanzwesen hingegen führte zu einem Desaster. Sind die Erkenntnisse der Versuche von Mondermann auf Wirtschaft und Finanzen nicht übertragbar?

Die Deregulierung der Finanzmärkte glich verkehrstechnisch dem Vorhaben, eine breite Straßenschneise durch ein Wohngebiet zu schlagen mit absolutem Vorrecht des (Bank-)Autoverkehrs. Die Ratingagenturen erlaubten mit immer besseren Ratings für immer schlechtere Sicherheiten ein immer höheres Tempo. Die Autofahrer (=Banker) verließen sich auf die Verkehrsregelung, schalteten Hirn und Verantwortungsbewusstsein aus. Und sie wussten das Recht des Stärkeren auf ihrer Seite. Das ist genau das Gegenteil von Mondermanns „nackten Straßen“.

Es ist nicht die Deregulierung an sich, die die Finanzkrise verursachte. Der Kardinalfehler liegt darin, dass die Finanzindustrie sich selbst zu überlassen wurde, sie konnte ihr eigenes Spiel spielen. Die Beteiligten waren sich sicher, dass sie herausgehauen werden, wenn es schief geht. Diese doppelte "Freiheit" von Regulierung und von Konsequenzen riskanten Handelns führte in die Katastrophe.

Too big to fail“ – das ist der Begriff, der das beschreibt: Bist Du als Bank erst groß genug, kann Dir nichts mehr passieren. Würde heute eine Großbank kollabieren, müsste sie wieder genauso gerettet werden, wie vor vier Jahren, als Lehman Brothers unterging. Das globale Finanzsystem ist nicht sicherer geworden, viele Banken sind nach wie vor zu schwach kapitalisiert.

Und das gilt besonders für das europäische Bankensystem: Es ist auf Basis berichteter Verschuldung mit 26 zu 1 gehebelt und hat einen Umfang von über 46 Bill. Dollar, fast das dreifache des EU-BIP. Es ist damit fast viermal so groß wie das der USA, dessen Umfang mit 12 Bill. Dollar unterhalb des US-BIP liegt und mit 13 zu 1 halb so stark gehebelt ist.

Das viel gepriesene Regelwerk Basel III soll dafür sorgen, den Kapitalaufbau bei Großbanken voranzutreiben. Die Banken argumentierten, der Zwang zu mehr Eigenkapital würde ihre Kapitalkosten erhöhen. In der Tat ist zusätzliches Eigenkapital für die Banken teuer, insbesondere zu (zunächst vergangenen) Zeiten bröckelnder Aktienkurse. Fremdkapital hingegen ist billig verfügbar, einerseits weil die Notenbanken die Liquiditätsschleusen aufgerissen haben, andererseits weil nach wie vor davon ausgegangen wird, dass der Staat bei Banken-Schieflagen einspringt. Zudem perpetuiert Basel III den Glauben an die Berechenbarkeit von Risiken. Die zugrunde liegenden Modelle gehen dabei in der Regel auch noch von wirklichkeitsfernen Annahmen aus. Und schließlich hat man bei Basel III viel zu lange Fristen festgelegt – in der Hoffnung, die Banken wären in den nächsten sechs bis sieben Jahren imstande, mit den in dieser Zeit erzielten Gewinnen Lücken bei ihrer Ausstattung mit Eigenkapital zu schließen.

Bislang hat Basel III wenig erreicht. Und die Banken tun alles, damit das so bleibt. Dazu drohen sie u.a., eine Verstärkung ihres Eigenkapitals zwänge sie, die Kreditvergabe einzuschränken und das bremse die Wirtschaft aus.

Also bleibt alles wie es ist. Die Großbanken sind weiter „systemrelevant“ und dürfen deshalb nicht fallen. Die Banken wissen das und saugen sich mit Zentralbank-Krediten wie z.B. den LTROs voll, die die EZB nach Gießkannenprinzip vergeben hat. Diese Mittel wiederum werden dazu eingesetzt, ein immer größeres (Spekulations-)Rad zu drehen.

EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia schätzt die totalen Kosten aller EU-weiten Bankenrettungen auf 4 bis 5 % des EU-BIP (2011: 12,64 Bill. Euro; Eurozonen-BIP (17 Länder) 9,4 Bill. Euro). Da nach den neuen EU-Beschlüssen Banken vom ESM direkt gerettet werden können sollen: Das alleine entspricht etwa dem anfänglich angesetzten Kapital des ESM. Und dann sollen auch noch PIIGS gerettet werden…

Die „nackten Straßen“ führen eindrucksvoll vor, was zu tun ist: Die Akteure müssen zu eigenverantwortlichem, umsichtigen Handeln gezwungen werden. Das geht letztlich nicht über noch einen und dann noch einen operativen Eingriff (=Verkehrsschilder), sondern über das Setzen adäquater, klarer Rahmenbedingungen wie etwa dem generellen „No Bailout“. Auf einem solchen Boden machen dann auch bestimmte operative Vorgaben Sinn – aber umgekehrt wird eben kein Schuh daraus, es käme nur Interventionismus heraus. Und interventionistische Regulierung verhindert Finanzkrisen nicht.

Von solchen klaren Rahmenbedingungen sind wir hinsichtlich Banken weit entfernt. Und mit dem Beschluss, den heute startenden ESM auch zur Bankenrettung einzusetzen, entfernt man sich davon nur noch weiter.

So lange jeder Politiker in Brüssel und anderswo spätestens im zweiten Satz seiner Rede von den "Märkten" spricht, die beruhigt werden müssen, freut sich die Finanzindustrie und zeigt sich "beunruhigt". Und der Politiker gehorcht.

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