Geopolitical Futures: Ein Jahr Krieg

Ein Jahr ist es her, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, und der Konflikt wütet weiter. Nachdem es Russland nicht gelungen war, Kiew zu erreichen, schien die Ukraine früh die Oberhand zu gewinnen, zog sich aus dem Norden zurück und konzentrierte sich auf kleinere Gebiete in der Nähe von Cherson, Donbass und Charkiw.

Das schreibt „Geopolitical Futures“. Nachfolgend bringe ich eine leicht gekürzte Übersetzung eines Artikels mit dem Titel „The Ukraine War, One Year In“. Der Text stellt die Lage in der Ukraine und der Welt aus gut mit maßgebenden politischen Kreisen vernetzter US-amerikanischer Sicht dar. Siehe auch am Ende des Artikels!

Im August hatte die Ukraine die Front stabilisiert und eine Gegenoffensive eingeleitet, die in Charkiw erfolgreich war, aber nicht die gesamte Region Cherson zurückerobern konnte. Nach einigen Monaten der Mobilisierung, Rekrutierung und Ausbildung war nun Russland an der Reihe. Moskau stabilisierte die Front Ende 2022 und ist nun wieder in der Offensive.

In der Zwischenzeit gab es in beiden Streitkräften Anzeichen für Kämpfe innerhalb der jeweiligen Führungen. Die ukrainische Regierung hat nach Korruptionsvorwürfen im Verteidigungsapparat weitreichende Umstrukturierungen vorgenommen. Und in Russland gab es tiefe Gräben zwischen den konventionellen Streitkräften, der privaten Militärgruppe Wagner und dem russischen Generalstab. Das lähmte die Kampfkraft auf beiden Seiten.

Die russische Militärlogik legt nahe, dass Moskau weiter kämpfen wird, in der Hoffnung, die Kontrolle über Gebiete wie den Donbass zu erlangen oder wiederzuerlangen, die Russland bereits für sich beansprucht.

Praktisch jede Region der Welt ist von dem Konflikt betroffen und wird von ihm beeinflusst.

Die USA
Die USA hatten kein Interesse daran, dass Russland in Europa einmarschiert. Ein wichtiger Teil ihrer Strategie bestand darin, Europa hinter einer gemeinsamen Anti-Russland-Stimmung zu versammeln. Noch wichtiger war natürlich, dass Washington die Kriegsanstrengungen unterstützte. Im Jahr 2022 leisteten die USA der Ukraine Hilfe im Wert von mehr als 48 Mrd. Dollar, von denen 23 Mrd. Dollar für das Militär bestimmt waren. Dazu gehören hochentwickelte Waffensysteme und wichtige Informationen über russische Anlagen und Bewegungen.

Das Einzige, was die USA nicht zur Verfügung gestellt haben, sind physische Truppen. Das würde den Krieg eskalieren lassen und wäre in der Heimat äußerst unpopulär. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass nur 48% der Amerikaner Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, im Mai 2022 waren es noch 60%. Fast ein Drittel lehnt die Bereitstellung von Militärhilfe insgesamt ab. Die Bedrohungs-Wahrnehmung des Krieges in den USA ist von der Hälfte der Bevölkerung auf etwa ein Drittel gesunken.

Washington, nicht Kiew, hat die Verhandlungsmacht, den Krieg mit Russland zu beenden. Die USA hätten lieber einen kurzen Krieg als einen langwierigen, aber damit die Gespräche funktionieren, müssen sie aus einer Position der Stärke heraus verhandeln – daher die zahlreichen materiellen Hilfen und die beispiellose Sanktionskampagne. Diese verändert die globalen Handelsnetze grundlegend, indem sie die Standortverlagerung fördert und die Abhängigkeit von ausländischen Akteuren verringert.

Europa
Der Krieg in der Ukraine war ein Weckruf für Europa, nur nicht der, den Russland erwartet hatte. Anstatt Europa zu spalten, hat der Krieg es geeint. (Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Ungarn, dem es gelang, Ausnahmen von den Sanktionen auszuhandeln.)

Die Folgen sind vielfältig, doch zwei stechen besonders hervor. Erstens stimmte Deutschland der Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine zu, nachdem es eine Zusage der USA zur Lieferung von Abrams-Panzern gab. (…) Die EU hat ein bemerkenswertes Maß an Koordination bei der Suche nach Lösungen für die Energiekrise, die der Krieg ausgelöst hat, an den Tag gelegt.

In diesem Sinne hat die EU einen Wendepunkt erreicht. Wie lange ihre Einigkeit anhält, wird davon abhängen, wie lange der Krieg dauert und ob Russland die Energielieferungen nach Europa ganz abbricht. Sollte dies der Fall sein, werden die EU-Mitgliedstaaten gezwungen sein, sich untereinander abzustimmen, auch wenn sie um neue Energielieferungen ringen. Dieser Kampf hat das Interesse der Europäer an Nordafrika geweckt und ihnen vor Augen geführt, wie wichtig es ist, ein gutes Verhältnis zu den USA zu pflegen.

Zu diesem Zweck wird Washington ihnen so gut es geht helfen – vorausgesetzt natürlich, dass sie in Bezug auf die russischen Sanktionen eine einheitliche Haltung einnehmen. Wenn die USA nicht helfen, könnte sich die neu gefundene Einheit Europas auflösen.

Das ist die Wette, die Russland eingeht, und deshalb ist die Zeit auf seiner Seite. Je länger sich der Krieg hinzieht, desto mehr werden sich Länder wie Österreich, Ungarn und Polen untereinander und mit Brüssel streiten, jeder aus seinen eigenen Gründen. Wenn das passiert, werden die antirussischen Sanktionen kaum noch greifen.

Asien
China befand sich von Anfang an zwischen Russland und den USA eingeklemmt. Pekings Bündnis mit Moskau war eher theoretisch als praktisch und basierte auf wenig mehr als einer gemeinsamen Feindseligkeit gegenüber Washington. Dies erklärt, warum Peking sich gegen die USA und die EU ausgesprochen, aber wenig getan hat, um Moskau proaktiv zu helfen – ungeachtet der jüngsten Gerüchte über tödliche Waffenlieferungen. China kann es sich nicht leisten, mit den USA, seinem wichtigsten Handelspartner und einer wertvollen Quelle für dringend benötigte Auslandsinvestitionen, aneinander zu geraten, so lange seine Wirtschaft so marode ist.

Unterdessen ist Moskau zunehmend von chinesischen Unternehmen und Verbrauchern abhängig geworden. Chinesische Energiehändler und -unternehmen haben begonnen, die Lücke zu füllen, die westliche Firmen in Russland hinterlassen haben. China kaufte auch russisches Öl zu stark reduzierten Preisen. Von den 60 Automarken, die vor dem Krieg Autos auf dem russischen Markt verkauften, sind nur noch 14 übrig geblieben, von denen 11 chinesisch sind. Ende Dezember eröffnete Russland die neue Power of Siberia-Gaspipeline nach China. Die Pipeline dürfte Russland bei der Umstellung seiner Energieexporte weg von Europa helfen und gleichzeitig China dabei unterstützen, seinen Energiebedarf besser zu decken.

Auch für Japan und Nordkorea bot der Ukraine-Krieg neue Chancen. Japan hat eine führende Rolle bei der Verurteilung Russlands übernommen und sich an den Sanktionen gegen das Land beteiligt. Tokio rückte mehr in den Mittelpunkt des Geschehens. Der Krieg bot Nordkorea die Gelegenheit, seine militärischen Drohungen zu erneuern, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die USA und in geringerem Maße auch Japan und Südkorea durch den Ukraine-Konflikt abgelenkt waren.

Weiter südlich entwickelt sich Indien zu einem neuen Ziel im Wettbewerb zwischen Russland und dem Westen. Indien verfolgt seit langem die Strategie, die Großmächte gegeneinander auszuspielen, aber sein Aufstieg zu einer wirtschaftlichen und geopolitischen Kraft ermöglicht es ihm, die Bedingungen effektiver zu diktieren.

Indien ist nicht bereit, die Beziehungen zu Russland, einem langjährigen Verbündeten und wichtigen Lieferanten von Militärgütern, völlig abzubrechen. Vielmehr hat die bilaterale Zusammenarbeit im vergangenen Jahr ein neues Niveau erreicht. Für Russland ist Indien ein bedeutender und noch nicht gesättigter Markt, der profitable Handelsbeziehungen und neue Logistikrouten bieten kann.

Für Indien ist Russland eine Quelle für jetzt billigeres Öl. Der Anteil Russlands an den indischen Rohölimporten lag in elf Monaten des Jahres 2022 bei über 25%. Die Lieferungen von russischem Rohöl nach Indien stiegen um das 9,5-fache und erreichten 19,7 Mrd. Dollar. Ähnlich verlief die Entwicklung bei Ölprodukten (fünffacher Anstieg auf 2,5 Mrd. Dollar) und Kohle (vierfacher Anstieg auf 3,8 Mrd. Dollar).

Bei all dem hat Washington versucht, Indien zu einer klareren Haltung gegenüber der Ukraine zu bewegen und die Teilnahme am vierseitigen Sicherheitsdialog zu intensivieren. Die USA können Indien nur begrenzt unter Druck setzen – Neu-Delhi ist anscheinend zu wichtig für ihre indo-pazifische Strategie, um es für den Handel mit Russland zu bestrafen. Alles in allem könnte Indien den Ukraine-Krieg nutzen, um sein internationales Ansehen zu verbessern.

Naher Osten
Der Krieg hat mehreren Staaten des Nahen Ostens mehr Spielraum für ihre Außenpolitik verschafft.

Der größte Nutznießer ist die Türkei. Ankara hat der Ukraine Drohnen zur Verfügung gestellt, um russische Angriffe abzuwehren, obwohl das Land enge Beziehungen zu Moskau unterhält. Präsident Erdogan hat seinen Einfluss auf beiden Seiten geltend gemacht, um eine Einigung zwischen Moskau und Kiew herbeizuführen, damit die Getreidelieferungen durch das Schwarze Meer weiterhin möglich sind. Die Türkei hat ihre Präsenz in Russlands traditioneller Einflusssphäre, u.a. im Kaukasus, ausgeweitet, und jetzt, da Russland abgelenkt ist, kann sie dies auch im Schwarzmeerraum tun.

In der Zwischenzeit ist Russland bei der Beschaffung von Drohnen und anderen Waffen auf den Iran angewiesen – ein Umstand, der Teheran zugute kommt, das selbst unter Wirtschaftssanktionen leidet. Im Gegenzug für die Unterstützung Russlands mit militärischem Gerät und Beratern hat der Iran Zugang zu russischer Technologie, hochentwickelten Waffenplattformen und umfangreichen neuen Handelsnetzen erhalten, mit denen die westlichen Sanktionen umgangen werden sollen.

Die Tatsache, dass der Iran nicht mehr so isoliert ist wie vor dem Ukraine-Krieg, hat Israel alarmiert, das alles in seiner Macht Stehende tut, um sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit des Irans mit Russland seine Position in Syrien nicht stärkt.

Nicht zuletzt haben sich Washingtons wichtigste arabische Verbündete, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, geweigert, die Bemühungen der USA um eine Isolierung Russlands auf den Energiemärkten zu unterstützen. Im Gegenteil: Riad und Abu Dhabi haben sich bemüht, enge Beziehungen zum Kreml zu unterhalten. Sie verfolgen nicht nur ihre eigenen Interessen in Bezug auf den Ölmarkt, sondern nutzen auch die Gelegenheit, ein Druckmittel gegen die Regierung Biden einzusetzen, die seit der Vorkriegszeit gespannte Beziehungen zu beiden Ländern unterhält.

Afrika
Der Krieg in der Ukraine hat sich in zweierlei Hinsicht auf Afrika ausgewirkt. Erstens hat die Invasion die regionale Ernährungsunsicherheit verschärft.

Russland und die Ukraine sind wichtige Exporteure von Getreide, die nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen im Jahr 2021 rund 44% des Gesamtverbrauchs Afrikas decken. Nach der Invasion wurden die ukrainischen Schwarzmeerhäfen blockiert, und die Getreidepreise stiegen weltweit in die Höhe. Die afrikanischen Regierungen haben unterschiedliche Methoden zur Lösung des Problems angewandt. In Äthiopien zum Beispiel wurde die lokale Produktion hochgefahren. (…) Viele afrikanische Länder verfügen nicht über die Mittel, um Getreide aus alternativen Quellen zu kaufen, und haben sich daher stark auf Getreidespenden aus dem Westen verlassen.

Zweitens ist Afrika erneut zu einem Schlachtfeld im Wettbewerb zwischen dem Westen und Russland geworden. Russland hat beispielsweise in Ländern wie Mali, der Zentralafrikanischen Republik, Burkina Faso und dem Sudan an Einfluss gewonnen, indem es die Wagner-Gruppe billig einsetzte, um den dortigen Militärregimen ein gewisses Maß an Sicherheit zu bieten. Afrikanische Länder helfen Russland bei der Umgehung von Sanktionen, viele davon im Bereich der Rohstoffgewinnung.

Lateinamerika und Karibik
Der Krieg hat die Inflation in der gesamten Region in die Höhe getrieben und die klammen Regierungen dazu veranlasst, mehr finanzielle Unterstützung bereitzustellen, um den Anstieg der Lebenshaltungskosten auszugleichen. Gleichzeitig verschlechterten steigende Zinssätze und geringere Wachstumsaussichten die Schuldentragfähigkeit in der Region.

Der Krieg löste auch eine Nahrungsmittelkrise aus. Auf dem Papier produzieren Lateinamerika und die Karibik genug Nahrungsmittel, um ein Sechstel der Weltbevölkerung zu versorgen. Doch die hohen Düngemittelpreiserichteten in der Region verheerende Schäden an -noch verschärft durch den Konflikt- und zwangen die Landwirte, ihre Anpflanzungen zu reduzieren. Die Dürre hat die Ernteerträge weiter geschmälert. Die Folgen für die Region dürften eine Verschärfung der Armut und eine größere Ernährungsunsicherheit sein.

Strategisch gesehen haben Lateinamerika und die Karibik in diesem Krieg eine untergeordnete Rolle gespielt. Die meisten dieser Länder haben offizielle Beziehungen zu Russland aufrechterhalten und eine ausdrückliche Verurteilung des Kremls vermieden. Die Nähe der Region zu den USA bedeutet jedoch, dass Moskau versuchen könnte, Washington unter Druck zu setzen. Russlands Beziehungen zu Kuba, Venezuela und Nicaragua sind traditionell recht eng.

Wer ist Geopolitical Futures?
Geopolitical Futures erzählt nach eigenen Worten die kontinuierliche Geschichte der Zukunft. Die Warte, von der aus die Welt analysiert wird, beruht auf der Annahme, dass unpersönliche Kräfte aus Geographie, Politik, Wirtschaft, Militär und Demographie die Weltpolitiker bestimmen und nicht umgekehrt. Wenn man weiß, was eine Führungspersönlichkeit antreibt und einschränkt, kann man vorhersagen, wie sich die Nation, die sie führt, verhalten wird. Wenn man weiß, wie sich Nationen verhalten, kann man voraussehen, wie sich das internationale System verändern wird, heißt es.

Wenn man vorhersehen kann, wie sich das internationale System verändern wird, beginnt man, das Weltgeschehen im Kontext einer viel längeren und interessanteren Geschichte zu sehen, als das die Mainstream-Medien könnten. Aufstieg und Fall von Weltmächten werden leidenschaftslos nachzeichnet. So weit die Selbstdarstellung.

Geopolitical Futures wurde 2015 von dem „international angesehenen Strategen und Bestsellerautor" George Friedman gegründet. Friedman ist ein gut vernetzter US-amerikanischer Analytiker der Weltpolitik. Er tut dies von einem hegemonialen Standpunkt aus, Zweifel an der Rolle der USA fechten ihn nicht an. Nichtdestotrotz, vor allem aber deswegen ist seine Meinung interessant.

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