Ukraine: Sieg, Niederlage, Chaos – zwei Stimmen

Der ukrainische Präsident Selensky hat sich innerhalb weniger Monate vom Helden zur Null entwickelt. Massive westliche Militärausrüstung in den Händen von mutigen, aber unvorbereiteten und schlecht geführten ukrainischen Wehrpflichtigen hat die ukrainische Leistung auf dem Schlachtfeld nicht verbessert…

Das schreibt Douglas Macgregor in seinem aktuellen Artikel „Washington on the Knife Edge“.

Dem stelle ich die Einschätzung von George Friedman von Geopolitical Futures in „The War Is Over, but No One Knows How to Stop Fighting" gegenüber, der die Dinge aus US-imperialistischer Sicht völlig anders sieht. Ihm zufolge haben die USA ihr Ziel erreicht, Russland von den Nato-Grenzen fern zu halten, während Russland und die Ukraine ihre Ziele nicht schaffen werden.

Zuerst weiter mit Douglas Macgregor in einer gekürzten Übersetzung:

…Daraus resultierende Hunderttausende von getöteten und verwundeten Ukrainern haben Berichten zufolge Tausende von erschöpften ukrainischen Soldaten veranlasst, sich zu ergeben. Die ukrainischen Soldaten sind des Sterbens überdrüssig, und ihre Gefühle sind berechtigt.

Die militärische Macht Russlands beruht auf der systematischen Integration von Angriffsmitteln – Raketen, Flugkörpern, Artillerie, Drohnen und Flugzeugen – mit weltraum- und erdgestützter ständiger Überwachung. Nachdem die russischen Streitkräfte ihren Vormarsch gestoppt und in der Ostukraine eine Verteidigung in der Tiefe aufgebaut hatten, begann die präzise, verheerende Feuerkraft der Russen die angreifenden ukrainischen Boden- und Luftstreitkräfte wie Fliegen zu zerquetschen. (…)

Ohne eine ernsthafte Bewertung des wahren militärischen Potenzials Russlands, insbesondere wenn es sich zu Aktionen vor Moskaus Haustür in Osteuropa verpflichtet sieht, versicherte Washingtons globalistisch-neokonservative Führung Selensky, dass er und seine Regierung die finanzielle und militärische Unterstützung der USA und ihrer NATO-Verbündeten haben würden, „solange es nötig ist". (…)

Dank der willfährigen westlichen Medien haben Selensky und seine politischen Hintermänner in der NATO Berge versprochen, aber nur Maulwurfshügel geliefert. (…) Als die NATO-Mitglieder im Juli 2023 in Vilnius zusammenkamen, hatte sich die Stimmung geändert. Das Schicksal der Ukraine, ganz zu schweigen von ihrer Mitgliedschaft in der NATO, würde sich nach dem Ausgang der gefeierten Gegenoffensive der ukrainischen Armee entscheiden.

Als sich die ukrainischen Verluste häuften und die ukrainische Gegenoffensive katastrophal scheiterte, lief in Washington einiges schief. Amerikanische Politiker und Militärs kritisierten Selensky und seine hochrangigen militärischen Führer heftig für zutiefst fehlerhafte strategische Entscheidungen, die zu schweren Verlusten an Männern und Ausrüstung führten. Die Suche nach einer Rückzugsstrategie aus der Ukraine, ohne sie offen zu benennen, war im Gange.

Hinter den Kulissen begann die Spaltung offen zutage zu treten zwischen denjenigen nationalen Führern in den USA und Europa, die dem Mythos der russischen Rückständigkeit anhingen, und jenen, die insgeheim die Weisheit in Frage stellten, eines der korruptesten Regime der Welt gegen ein atomar bewaffnetes Russland zu unterstützen.

Viktor Orban, Ungarns kluger und scharfsinniger Ministerpräsident, hat die Beteuerungen Washingtons, Russlands Schwäche bedeute eine sichere Niederlage für Moskau, stets zurückgewiesen. Jetzt übernehmen immer mehr europäische Staats- und Regierungschefs seine politische Haltung. (…) Moskaus strategisches Ziel war und ist es, zu verhindern, dass die Ukraine zu einer Plattform für die Projektion amerikanischer und alliierter NATO-Militärmacht gegen Russland wird, und nicht, Osteuropa zu erobern.

Für viele der amerikanischen und europäischen Kritiker des gefährlichen Fiaskos in der Ukraine stellt der Zusammenbruch der zivilen Ordnung in den USA und Europa eine klare und gegenwärtige Gefahr für die westliche Zivilisation dar, nicht Russland. (…) In Schweden ist der Zusammenbruch von Recht und Ordnung inzwischen so akut, dass der schwedische Premierminister den Einsatz schwedischer Truppen zur Wiederherstellung der Ordnung gefordert hat.

Europäer und Amerikaner wissen, dass es sich bei den Millionen, die durch ihre Grenzen drängen, nicht um Asylbewerber oder politische Flüchtlinge handelt. Die Massen werden eingeladen, die nationale Identität und Kultur der Amerikaner und Europäer zu verwässern und die amerikanische und europäische Fähigkeit, sie zu assimilieren, zu überfordern.

In ihrer Eile, von Washingtons Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu profitieren, haben die Politiker, Konzernchefs, Hedgefondsmanager und Medienmogule des Westens einen schweren Fehler begangen. Sie entschieden sich für die Washingtoner Einheitspartei, die Agenda der radikalen Linken und den permanenten Stellvertreterkrieg der Globalisten gegen Russland. Das war eine schwere Fehlkalkulation.

Washington und seinen Verbündeten gehen die Munition, die Ausrüstung und die interne Unterstützung für die Ukraine aus. Die europäischen Armeen sind ausnahmslos Boutique-Truppen, die für Konflikte niedriger Intensität ausgelegt sind. (…)

Die nackte Wahrheit ist, dass der Stellvertreterkrieg in der Ukraine verloren ist, aber die Gewohnheitsdroge endloser Konflikte im Ausland, die durch rasante Verteidigungs-Ausgaben ermöglicht werden, scheint zu stark zu sein, als dass Washingtons Unipartei ihr widerstehen könnte.

Wenn kein Wunder geschieht, wird Washingtons kompromisslose globalistische politische Ideologie, die auf Angst beruht, die ukrainische Nation in ihre totale Zerstörung treiben – Angst vor angeblichen Feinden im Ausland und Angst vor freiem Denken und freier Meinungsäußerung im eigenen Land.

So setzt sich der Abstieg des kollektiven Westens in eine Hölle fort, die er selbst geschaffen hat. Washington und seine NATO-Verbündeten stehen vor einer geschmacklosen Wahl: Entweder sie erkennen Moskaus legitime nationale Sicherheitsinteressen in der Ukraine an und beenden das Blutbad, oder sie riskieren, Europa in einen verheerenden regionalen Krieg hineinzuziehen, auf den Europäer und Amerikaner nicht vorbereitet sind.

George Friedman sieht die Lage völlig anders. Für ihn haben die USA ihre Ziele erreicht. Daher werde es früher oder später zu einem Ende des Krieges kommen. (Nur) in diesem Punkt berührt sich seine Einschätzung mit der von Macgregor, der ein solches Auskommen zumindest als eine Möglichkeit ansieht.

Nachfolgend die gekürzte Übersetzung von Friedmans Einlassung:

Es ist mehr als eineinhalb Jahre her, dass Russland seinen Angriff auf die Ukraine gestartet hat. Der Krieg ist nicht so verlaufen, wie es die Russen erwartet hatten, es sei denn, sie hatten mit mehr als einem Jahr voller Verluste gerechnet, ohne in der Lage zu sein, die Ukrainer zu vernichten. (…)

Die Ukraine hat ihr Heimatland verteidigt, die Moral ist also hoch. Die ukrainische Mission bestand darin, einen russischen Rückzug über die Grenze zu erzwingen. (…) als sich die Russen mit schweren Waffen in vorbereitete Verteidigungsstellungen zurückzogen, wurde die ukrainische Strategie weniger effektiv. Der massive Einsatz von US- und NATO-Waffen erhöhte die Verluste in den Verteidigungsstellungen ebenso wie in den Angriffspositionen.

Der amerikanisch-russische Krieg unterschied sich in gewisser Weise von dem russisch-ukrainischen Krieg. Ich habe bereits früher darüber geschrieben. Russland befürchtete, dass eine amerikanische Streitmacht an der ukrainischen Grenze das etwa 480 Kilometer entfernte Moskau angreifen könnte. Die Amerikaner befürchteten, dass der Fall der Ukraine russische Streitkräfte an die östliche Grenze der NATO-Staaten bringen und den Kalten Krieg neu entfachen würde. In diesem Sinne hat der Krieg wenig mit der Ukraine zu tun, außer dass er das Land verwüstet hat und auf einen schmerzhaften und gefährlichen Kalten Krieg zusteuert.

So gesehen war der Einmarsch der Russen in die Ukraine eine Aktion gegen die Amerikaner. Die amerikanische Reaktion zielte nicht nur darauf ab, den Einmarsch zu verhindern, sondern auch darauf, die Möglichkeit zu eröffnen, dass sich Russlands größte Befürchtung bewahrheiten könnte: Ukrainische Streitkräfte, unterstützt von amerikanischer Ausrüstung, die bis an die empfindlichste Grenze Russlands vordringen. (…)

Wir haben also eine Art eingefrorenen Krieg erlebt, in dem die Notwendigkeit, Positionen zu halten, es unmöglich macht, genügend Kräfte einzusetzen, um die ursprünglichen Ziele zu erreichen. Diese Art von Kriegen wird vor allem zu einem politischen Morast, in dem beide Seiten befürchten, dass jede Bewegung politische Konsequenzen für die Aufnahme von Friedensgesprächen haben könnte.

Selensky war der Ansicht, dass eine amerikanische Intervention, wenn sie die Russen nicht zum Abbruch veranlasst, der Ukraine zumindest einen Gegenangriff in großem Umfang ermöglichen würde. Die USA sind jedoch in einen anderen Konflikt verwickelt: Sie wollen Russland von der NATO fernhalten. Sie würden genügend Kräfte bereitstellen, um die Russen auf Distanz zu halten, aber nicht genug, um sie zu vernichten.

Russland hat die USA von seiner Grenze ferngehalten, aber kaum etwas anderes. Die Ukraine hat die Souveränität über einen großen Teil des Landes behalten. Und die USA haben ein russisches Vordringen über die Ukraine hinaus höchst unwahrscheinlich gemacht.

Die USA haben ihr Ziel erreicht, während Russland und die Ukraine es nicht geschafft haben und auch nicht schaffen werden. Allerdings sind sie auch nicht vernichtet worden. Die Ukraine ist jetzt ein geteiltes Land, das aber noch intakt genug ist, um den Sieg für sich zu beanspruchen, und Russland ist über seine alte Grenze hinausgedrungen, um einen kleinen Sieg zu erringen. Beide könnten humanitäre Gründe für die Beendigung des Krieges geltend machen.

(…) Nachdem wir also fast zwei Jahre lang gekämpft und verteidigt haben, ist einigermaßen klar, wie der Krieg endet. Wie lange wird es dauern, bis die Führer zugeben, was offensichtlich ist? Alle haben diesen Krieg verloren, und zu gegebener Zeit werden es auch die Führer tun. Und das ist es, was den unvermeidlichen Frieden verzögern wird.

Zur Person:
Douglas Macgregor ist ein pensionierter Colonel der United States Army, Politikwissenschaftler, Militärtheoretiker, Autor und Berater. Er war von Trump als Botschafter in Deutschland nominiert worden, wurde aber vom Senat nicht bestätigt. Macgregor unterstützte die „America First“-Politik von Ex-Präsident Trump und plädierte für einen sofortigen Abzug aus Afghanistan, Syrien und Irak. Für ihn ist der NATO-Verbündete Türkei unter Erdogan die größte Gefahr für die USA im Mittleren Osten, nicht der Iran. Er kritisiert das militärische Establishment regelmäßig. So monierte er z.B. bei Fox News, niemand wolle untersuchen, wo das Geld für den Afghanistan-Einsatz hingeflossen sei und wer sich daran in den USA bereichert habe. Zur Beilegung von Konflikten in den internationalen Beziehungen plädiert er für Lösungen, mit denen beide Seiten leben können. Die NATO sieht er als Zombie. Die Aktivitäten der US-Neokonservativen (NeoCons) sieht er sehr kritisch. Nach der russischen Invasion im Donbas und auf der Krim 2014 erklärte er im russischen Staatssender RT, dass Ost-Ukrainer Russen seien und sich Russland anschließen dürften.

George Friedman von Geopolitical Futures ist ein gut vernetzter US-amerikanischer Analytiker der Weltpolitik. Er tut dies von einem imperialistischen Standpunkt aus, Zweifel an der Rolle der USA fechten ihn nicht an. Nichtdestotrotz (bzw. deswegen) ist seine Meinung interessant.

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