Wissenschaft und Aufklärung in der Corona-Krise

Michael Esfeld ist seit 2002 Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne und seit 2010 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Eben diese Leopoldina hat kürzlich in einer Stellungnahme einen „harten“ Kurs der Bundesregierung gefordert. Elsfeld widerspricht und fordert die Rücknahme der Erklärung. Nachfolgend zeichne ich seine Gedanken nach.

Die seit März mehr oder weniger massive Einschränkung von Grundrechten wird mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über eine allgemeine Gesundheitsgefährdung durch die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 („Corona“) begründet. So heißt es auch wieder in der erwähnten Stellungnahme der Leopoldina vom 8. Dezember: „Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern.“

Aus der Geschichte, insbesondere des letzten Jahrhunderts, sind viele Fälle bekannt, in denen staatliche Zwangsmaßnahmen als aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig legitimiert wurden, aber verheerende Folgen für die betroffenen Menschen hatten. Ist das aktuell anders, gibt es Erkenntnisse, die die Beschneidung von Grundrechten alternativlos sein lässt?

Die Aufklärung des 17./18. Jahrhunderts hat zwei Gesichter. Das eine ist die Befreiung des Menschen aus den Fesseln von Feudalismus und Kirche, das andere ist die Idee, die Gesellschaft ließe sich gemäß „objektivem“ naturwissenschaftlichem Wissen gestalten. Das erste Gesicht sieht Individuen, die ihre Freiheit gebrauchen, um eigene, überlegte Entscheidungen zu treffen und zu verantworten. Das zweite Gesicht glaubt daran, dass naturwissenschaftliches Wissen individuelle, wie auch gesellschaftliche Entscheidungen vorgeben kann. Im ersten Fall gibt es keinen absoluten, objektiven Maßstab für das, was eine richtige Entscheidung ist, im zweiten Fall wird unterstellt, dass aus naturwissenschaftlichem Wissen heraus alternativlose Entscheidungen getroffen werden können. [Anmerkung: Das lässt sich zwar als Reflex auf den Absolutheitsanspruch der Kirche damals interpretieren, der Glaube an eine quasi-religiöse absolute Rolle der Wissenschaft ist aber auch als vor-aufklärerischen Rückfall zu sehen.]

In der Corona-Krise erhebt eine Allianz aus Wissenschaft und Politik den Anspruch, über Erkenntnisse zu verfügen, wie man gegen diese Bedrohung vorgehen muss, wobei man sich über die Freiheit der einzelnen Menschen hinwegsetzt.

Die aufklärerische Begründung der Staatsgewalt sieht diese einerseits als erforderlich an, um die Freiheit des Einzelnen und seines sozialen Kontextes mit einem Rechtssystem abzusichern. Andererseits darf sich die Staatsgewalt nicht dem Urteil Einzelner unterstellen, um Garant gegen das Recht des Stärkeren sein zu können. Beide Ziele sind letztlich unvereinbar. Ein demokratisches Verständnis räumt der Staatsgewalt gerade so viel Macht ein, dass sie die Individuen und ihre Gemeinschaften wirksam schützen kann, ohne einen Absolutheitsanspruch an diesen Schutz zu stellen. Ein wesentliches organisatorisches Element ist dabei die Aufteilung der Staatsgewalt in gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt.

Nun sind Notfälle denkbar, in denen die exekutive Gewalt mit unbeschränkter Machtfülle ausgestattet werden muss, um die Individuen wirksam schützen zu können. Wann liegt ein solcher Notfall vor? Die Entscheidungsbefugnis hierzu liegt in der Hand der Staatsgewalt. Der Rechtsstaat beschließt also für den Notfall seine eigene Aufhebung und damit einhergehend die formal legale Einschränkung, bzw. Aufhebung der Grundrechte der Bürger. Damit ist die Möglichkeit des Missbrauchs gegeben [siehe etwa Ermächtigungsgesetz in der Weimarer Zeit, das Hitler an die Macht brachte]. Bezogen auf die Coronakrise bedeutet das: Wenn man den Schutz vor Infektion durch ein Virus absolut setzt, also einen nationalen Notfall sieht, führt das zu einem total werdenden (Überwachungs-)Staat.

Ist die Ausbreitung des Coronavirus ein solcher Notfall? Anders gefragt, gibt es eine Grenze für staatliche Eingriffe, die durch Freiheit und Würde der einzelnen Menschen gesetzt ist? Und: Ist per Saldo der durch die staatlichen (Zwangs-)Maßnahmen abgewendete Schaden größer als die durch sie verursachten Seiteneffekte?

Per Mitte März 2020 war die von der Politik übernommene wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich geprägt durch die Studie von Neil Ferguson und anderen vom Imperial College London
vom 16. März 2020 (siehe auch hier!). Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass es ohne staatliche Eingriffe bis zum Spätsommer 2020 zu 2,2 Millionen Toten in den USA, sowie zu 500.000 in Großbritannien kommen würde. Die Studie basiert auf der Annahme, dass die Infektionszahlen ungebremst exponentiell wachsen. Die Infektionssterblichkeitsrate und die Infektiosität wurden auf feste, erhöhte Werte gesetzt, der Anteil asymptomatischer Infizierter („Dunkelziffer“), sowie eine Grundimmunisierung wurden als gering angenommen. Bereits Mitte März verfügbare Erkenntnisse über eine mögliche Bandbreite all dieser Werte wurden ignoriert. Die Autoren der Studie drängten zu einer Lockdown-Strategie, eine Abwägung von durch solch harte Maßnahmen zu erwartende Schäden gegenüber den Folgen weniger einschneidender Maßnahmen fand nicht statt.

Die Meta-Studie von John Ioannidis sieht in der Aktualisierung vom 15. September 2020 (WHO-Veröffentlichung) die Infektionssterblichkeitsrate mit einem Median-Wert von 0,27% (siehe hier (Anhang)!). COVID-19 ist für Menschen im hohen Alter und insbesondere mit entsprechenden Vorerkrankungen besonders gefährlich. Für alle anderen Personengruppen liegt die Gefährlichkeit im Bereich der allgemein akzeptierten, alltäglichen Risiken (wie zum Beispiel tägliche Autofahrten von ca. 100 km). Eine Gefährdung der Gesamtbevölkerung durch die Ausbreitung des Coronavirus lässt sich aus den Daten nicht ableiten. Andere Studien kommen zu vergleichbaren Ergebnissen (siehe hier!).

Der Vergleich zwischen gewonnenen und verlorenen Lebensjahren, letztere nur auf die Volkswirtschaft bezogen (unter Ausklammerung der weiteren gesundheitlichen und sozialen Schäden) ist in Bezug auf den Lockdown in Deutschland im Frühjahr 2020 ernüchternd. Gemäß einer Studie von Bernd Raffelhüschen wird vorgerechnet, dass selbst unter günstigen Voraussetzungen die Zahl der durch den Lockdown in der Zukunft verlorenen Lebensjahre die Zahl der maximal gewonnenen Lebensjahre um ein Vielfaches übersteigt („Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das?“, WiSt. Wirtschaftswissenschaftliches Studium Juli 2020). Ähnliche Ergebnisse gibt es für Großbritannien (Miles, David K., Stedman, Michael & Heald, Adrian H.: „‚Stay at home, protect the National Health Service, safe lives‘: a cost benefit analysis of the lockdown in the United Kingdom“, International Journal of Clinical Practice 2020, DOI: 10.1111/ijcp.13674, publiziert 10. August 2020).

Kurz: Die Schäden des Lockdown überwiegen dessen Nutzen; und während der Nutzen nur für die Risikogruppen besteht, treffen die Schäden alle Teile der Bevölkerung. Utilitaristisch fällt das Urteil über die staatlichen Zwangsmaßnahmen somit vernichtend aus, und zwar für jeden betrachteten Zeitpunkt: Alle Informationen, um die Dimension abzuschätzen, in der sich die Schäden bewegen werden, lagen bereits Mitte März vor, ebenso wie Informationen dazu, dass das Coronavirus nur für bestimmte Alters- und Risikogruppen gefährlich ist. Dementsprechend hat es auch bereits Mitte März nicht an warnenden Stimmen aus der Wissenschaft einschließlich der Medizin gefehlt, so etwa die Stimme von John Ioannidis (siehe hier!).

Die Evidenz fehlt, wieso bei der jetzigen Ausbreitung des Coronavirus alles anders sein sollte als in früheren ähnlichen Fällen (wie zum Beispiel Hongkong-Grippe von 1968/1970), die allein medizinisch bekämpft wurden, sowie durch spontane, freiwillige Verhaltensanpassung in der Bevölkerung. [Anmerkung: Das gleiche gilt für unterschiedlich schwere saisonale Influenza-Infektionen, wie z.B. 2015/2016 und 2017/2018. Siehe auch diesen uralten FAZ-Artikel zur aktuellen Lage!]

Da die Verbreitung des Coronavirus somit kein Verteidigungsfall und nach Lage der Zahlen auch kein sonstiger Fall der übermäßigen Gefährdung der Bevölkerung insgesamt ist, gibt es auch keine Berechtigung dafür, in dieser Situation zu Notrecht zu greifen. Die beschlossenen Einschränkungen der Grundrechte schaffen einen bedenklichen Präzedenzfall. Sie setzen die Meßlatte für den Notstand verantwortungslos herunter.

Wissenschaft ist ein steter Prozess vernünftiger Erkenntnissuche. DIE absolute Erkenntnis gibt es nicht. Folglich kann es keine zentrale staatliche Planung des Lebens von Menschen mit dem damit verbundenen Zwang als „aus (natur-)wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig“ geben. Die Rolle von Wissenschaft darf nicht die der Staatsreligion in voraufklärerischer Zeit sein. Wissenschaftler bringen sich sogar selbst in eine solche Rolle der Verkünder absoluter Wahrheiten, wie jüngst in der oben erwähnten Stellungnahme der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften geschehen. Aufklärung ist auch heute die Rettung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, in die unsere Gesellschaft diesbezüglich hineinzulaufen droht.

Die Alternativen bestehen laut Esfeld nicht darin, nichts zu tun oder aber zu Notrecht zu greifen. Wenn eine Infektionswelle eine bestimmte Gruppe von Personen bedroht, dann passen diese und alle anderen Personen spontan ihr Verhalten an. Und es ist Aufgabe des Staates, einen rechtlichen, organistorischen und finanziellen Rahmen zu schaffen für Solidarität mit der gefährdeten Personengruppe, um diese vor Infektion zu schützen. Aus deontologischer Sicht, aus Respekt vor der Freiheit und der Würde auch gerade dieser Personen muss man aber auch jedem Individuum die Freiheit lassen, selbst abzuwägen, welche Risiken es einzugehen bereit ist für ein als lebenswert erachtetes Leben. Niemand hat das Recht, hier Zwang zu ergreifen, seinen persönlichen Schutz absolut zu setzen und sich über die Lebensperspektiven Anderer hinwegzusetzen.

Die Politik kann sich zwar auf bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, aber sie ist selbst verantwortlich für das, was sie daraus für ihr Handeln ableitet. Wissenschaftler verlassen ihre angestammte „Domäne“, wenn sie ihre Erkenntnisse als direkte alternativlose Handlungsanweisung verstehen. Indem sich die Politik auf eine solche Rolle der Wissenschaft bezieht, versucht sie, die Verantwortung für ihr Handeln abzuwälzen. Sie leitet Maßnahmen ein, die sie als wissenschaftlich alternativlos ausgibt, und versteckt sich und ihre Verantwortung so hinter selbsternannten Hütern einer modernen Staats-Religion namens Wissenschaft. Das offenbart einen Rückfall in vor-aufklärerisches Denken und Handeln – der damalige "Autoritär", die Feudal-Klasse, hat sich auch gerne hinter der Kirche verschanzt.

[Die gesetzten Links führen teilweise zu den im Artikel von Elsfeld angegebenen Original-Quellen, teilweise zu Artikeln in diesem Blog]

Ergänzung:
Zum Thema passt auch "Meinungsfreiheit und wissenschaftlicher Diskurs in der Corona-Krise" von Professor Dr. Martin Schwab, Universität Bielefeld.

Siehe auch diesen uralten FAZ-Artikel zur aktuellen Lage!

Nachtrag:
"Die Welt" hat in Bezug auf die Stellungnahme der Leopoldina getitelt: "Angela Merkel und das Leopoldina-Desaster" . In "Corona-Stellungnahme: Der Lieferservice der Leopoldina" wird dargestellt, dass es der Stellungmnahme an wesentlichen wissenschaftlichen Merkmalen mangelt.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ihre Stimme, bitte.
Please wait...
blank
Schlagwörter: