Zinsen? Was ist das eigentlich?

Manchmal macht es Sinn, Begriffe, die man wie selbstverständlich tagaus, tagein verwendet, zu hinterfragen. Was also ist der Zins?

Der Zins wird landläufig als Preis des Geldes bezeichnet, er ist das Entgelt, das der Schuldner dem Gläubiger für zeitweilig überlassenes Kapital zahlt. Dass sich aus dem Schuldverhältnis allgemein, nicht alleine aus dem Schuldzins, besondere soziale Konsequenzen und Abhängigkeiten ergeben, hat u.a. Graeber in seinem Buch „Debt: The First 5.000 Years“ dargelegt. Im folgenden geht es nur um die wirtschaftliche Dimension des Zinses.

Geld und Zins sind eng verwoben. Daher zuvor die Frage: Was ist eigentlich Geld, was ist sein Ursprung?

Im Zuge der Entwicklung der Produktivität der menschlichen Gesellschaft kam es dazu, dass immer mehr Individuen (oder Teile der Gesellschaft) mehr Güter einer bestimmten Art zur Verfügung hatten, als zum unmittelbaren Leben und zur Sicherung der Existenz auf einen bestimmten Zeitraum hin benötigt wurde. Andere besassen andere Güter im "Überfluss" und so entwickelte sich daraus zunächst ein Tauschhandel, dann schließlich mit fortschreitender Produktivität ein Handel, bei dem nicht mehr Güter gegen Güter, sondern Güter gegen so etwas wie Geld getauscht wurde.

Bereits Aristoteles sah im Geld den Zweck, den Tauschhandel zu erleichtern und sprach sich gleichzeitig gegen Zinseinkommen aus:

„Daher wird mit allergrößter Berechtigung eine dritte Form der Erwerbstätigkeit, der Geldverleih gegen Zinsen, gehasst; denn dabei stammt der Gewinn aus dem Münzgeld selber, nicht aus der Verwendung, für die es geschaffen wurde, denn es entstand zur Erleichterung des Tauschhandels. …Zins aber ist Geld gezeugt von Geld. Daher ist auch diese Form von Erwerb am meisten wider die Natur.“
[nach Wikipedia]

Ein solches „Geld“ muss über folgende Eigenschaften verfügen: Es darf nicht beliebig vermehrbar sein (aufwändige Herstellung) und es muss physisch beständig sein, damit es über die Zeit seinen Wert behält (Werthaltigkeit im doppelten Sinne). Es muss aber auch physisch „dicht“ sein, damit es sicher verwahrbar und leicht transportierbar ist. Diese Anforderungen erfüllen Metalle, und hier natürlich insbesondere Edelmetalle.

Geld ermöglicht mit der Eigenschaft der Werthaltigkeit auch das Ausleben von Zeitpräferenzen, indem der Geldbesitzer heutige Ausgaben vermeidet (wegen der Produktivität auch vermeiden kann), um das Geld zu einem späteren Zeitpunkt gegen Güter zu erwerben, die erst dann benötigt oder verfügbar werden.

Die klassische und neoklassische Wirtschaftswissenschaft sieht im Zins eine Allokations-Funktion, die Knappheit an Geld signalisiert. Er lenkt Geld aus Produktionszweigen mit niedriger Rendite in solche mit hoher. Adam Smith's „Unsichtbare Hand“ führt den aus egoistischen Motiven handelnden Geldgeber dorthin, wo das Kapitaleinkommen am größten ist, und hilft so gleichzeitig, Engpässe zu beseitigen, was nach klassischer Lehre zu einer Verbesserung der Lebensgrundlagen der Gesellschaft führt.

Der österreichische Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914) führt drei Gründe für die Existenz des Zinses an. Erstens steigt das Einkommen im Lauf des Lebens an, so dass man für verliehenes Geld in Zukunft einen höheren Betrag zurück erwartet. Zweitens hätten Wirtschaftssubjekte eine „Gegenwartspräferenz“, die sie eher zu Ausgaben heute als zu solchen morgen verleitet. Damit sie bereit sind, Geld zu verleihen, also heute Konsum-Verzicht üben, muss ihnen zum Ausgleich eine Verzinsung angeboten werden. Drittens führt Böhm-Bawerk an, dass bei der (zeitaufwendigen) Produktion von Maschinen Arbeitslöhne anfallen, bevor die Maschine Geld erlösen oder Güter produzieren kann. Hierzu wird Kapital benötigt, das sich der Unternehmer leiht und über den Produktivitätszuwachs der Maschine nebst Verzinsung wieder hereinbekommt. Böhm-Bawerk sieht im Zins nicht den Preis des Geldes, sondern den Preis für die Zeit, der den Kreditgeber für die Verschiebung seines Konsums entschädigt.

Ein Zeitgenosse Böhm-Bawerks, der Schwede Knut Wicksell, unterscheidet zwischen dem natürlichen Zins, bei dem gesellschaftliches Sparen und Investieren gleich sind, und dem von den Banken gesteuerten Marktzins. Die Fertigstellung von Investionen braucht Zeit. Ob die Ersparnisse reichen, die Investionen zu Ende zu bringen, zeigt sich erst gegen Ende der Projekte. Ist dem so, entspricht der Marktzins dem natürlichen Zins. Liegen die Marktzinsen dagegen darunter, werden zusätzliche Investitionen angestossen. Durch die so gedrückten Sparzinsen wird aber nicht vermehrt, sondern eher weniger gespart und so weichen Investitionen und Ersparnisse immer stärker voneinander ab. Zunächst wird sowohl stärker investiert, die Banken schöpfen dabei Kreditgeld, als auch seitens der Sparer/Konsumenten mehr nachgefragt – es entwickelt sich ein konjunktureller Aufschwung. Die Preise steigen, die Zinsen ebenfalls. Da die Investionsprojekte mit niedrigeren Zinsen geplant wurden, gerät deren Profitabilität schließlich in Gefahr. Steigen die Zinsen weiter, brechen Kapitalgüterproduktion und Investitionen weg – es kommt zum konjunkturellen Abschwung.

Der österreichische Nationalökonom Ludwig von Mises knüpft am Aspekt der Zeitpräferenz an und erklärt den Zins aus den subjektiven Wertungen der Menschen. Die Behebung eines unmittelbaren Bedürfnisses wird der Behebung eines künftigen vorgezogen, eine bestimmte Menge heutiger Güter wird höher bewertet als die gleich große Menge künftiger Güter. So lässt sich aber auch eine bestimmte Menge heutiger Güter mit einer größeren Menge künftiger Güter wertmäßig gleichsetzen. Der Mengenunterschied entspricht dem Zins. Von Mises hat die Wicksellsche Konjunkturtheorie mit stärkerem Fokus auf die Zeitpräferenz weiterentwickelt und erhielt dafür 1974 den Wirtschafts-Nobelpreis.

Nach John Maynard Keynes ist der Zins die Belohnung für die Aufgabe von Liquidität über einen bestimmten Zeitraum, bzw. Kompensation für die zunächst präferierte Hortung von Geld. Die Liquiditätspräferenz ergibt sich daraus, dass mit Geld überall und jederzeit gezahlt werden kann und beliebige Güter gekauft werden können. Die Liquiditätsprämie des Geldes wird beim Kreditgeschäft vom Kreditgeber an den Kreditnehmer verliehen, für die Überlassung dieses Vorteils erwartet der Kreditgeber einen Zins in Höhe der Liquiditätsprämie.

Da im Kapitalismus durch den Zinseszins-Effekt zwangläufig Kapital angehäuft wird, muss die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals immer weiter sinken. Somit kommt es nach Keynes regelmäßig zu sich verschärfenden Krisen, solange der Zinsfuß größer als null ist und das Kapital in einer Wirtschaft anwächst. Eine Konjunkturbelebung durch Zinsdrücken ist nach Keynes normalerweise kein wirksames Mittel, weil sich die Rückkehr des Vertrauens im individualistischen Kapitalismus einer solchen Kontrolle gegenüber unzugänglich zeigt. Und so hoffte Keynes, die Rentier-Seite des Kapitalismus sei eine historisch vorübergehende Phase. Da er die Knappheit von Kapital in entwickelten Volkswirtschaften verneinte, hielt er Zinsen im Unterschied zur Landpacht für nicht gerechtfertigt (John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin, 1994).

Kleiner Exkurs: Wenn aus dem anfänglich zyklischen Problem der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ein strukturelles wird und die an Rendite orientierten Kapitalgeber „freiwillig“ nicht mehr ausreichend investieren, muss die in einer konsequent an Keynes ausgerichteten Wirtschaftspolitik zunächst als Anreiz gedachte staatliche Investitionssteuerung schließlich in eine allgemeine Kontrolle der Investitionen einmünden. Und wenn das nicht hilft, bleibt nur, die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals durch seine teilweise Vernichtung zu steigern. Und das geschieht am effizientesten durch Krieg. Ich schweife ab…

Zurück zu Keynes: Da die Geldhortung kaum Kosten verursacht, kann der Kreditgeber so lange warten, bis ihm der angebotene Zins angemessen erscheint. Um zu verhindern, dass dem Wirtschaftskreislauf auf diese Weise Geld entzogen wird (Liquiditätsfalle), sollte es nach Keynes zur Steigerung der Kosten für die Geldhortung eine ständige maßvolle Geldentwertung (Inflation) geben.

Die klassische und die Theorie von Keynes stimmen darin überein, dass der Zins eine wichtige Rolle bei Angebot und Nachfrage nach Kapital spielt und damit einen wichtigen Einfluss auf die Investitionstätigkeit hat. Beide Theorien lassen den Zeitaspekt außen vor. Bei Keynes spielt die Zeit nur insofern eine Rolle, als das die Dauer des Verzichts auf Liquiditätshortung die Höhe des Zinses beeinflusst.

Die österreichischen Erklärungsansätze stellen die Zeit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Das, der Aspekt der Zeitpräferenz, ist aus meiner Sicht entscheidend. Er bekommt mit steigender Produktivität der gesellschaftlichen Produktion einen immer größeren Stellenwert. Denn wenn die unmittelbaren Existenzgrundlagen der Mitglieder einer Gesellschaft auf absehbare Zeit gesichert sind, gewinnt die Frage an Bedeutung, was mit einem eventuell überschüssigen Betrag in der Kasse eines Verbrauchers geschieht. Und: Je höher die Gegenwartspräferenz ist (z.B. weil Verbraucher eine wirtschaftlich unsichere Zukunft sehen), je höher muss der Zins sein, der ihn dazu bringt, sein Geld heute nicht auszugeben, sondern zu sparen. Daraus lässt sich umgekehrt folgern, dass entwickelte Volkswirtschaften mit ihrem vergleichsweise „gesichertem Wohlstand“ normalerweise eher zu niedrigeren Zinsniveaus hin tendieren.

Im Grunde genommen führt die Liquiditätspräferenz von Keynes in dieselbe Richtung wie die „österreichische“ Gegenwartspräferenz. Er unterstellt gleichermassen, dass die Wirtschaftssubjekte die Möglichkeit vorziehen, Ausgaben heute zu tätigen. Dabei betont Keynes zwar den spekulativen Aspekt der Geldhaltung, aber auch in seiner Theorie ist wegen des Überangebots an Kapital in entwickelten Volkswirtschaften das Zustandekommen eines tendenziell niedrigeren Zinsniveaus schlüssig.

Es wäre zudem „menschlich“ widersinnig, zu unterstellen, dass der Zugriff auf die gleiche Menge an Gütern in der Zukunft gleich oder sogar höher bewertet wird als der in der Gegenwart. Hierzu müsste u.a. auch die Voraussetzung vollständiger Sicherheit über die Zukunft gehören. Thomas Mayer bringt es in seinem Buch „Die neue Ordnung des Geldes“ auf den Punkt, wenn er schreibt, unter den Umständen unserer weltlichen Existenz könne es kaum anders sein, als dass die Gegenwart höher bewertet als die Zukunft. Im Klartext: Zinsen können "eigentlich" nicht negativ werden.

Um das Pferd nun von hinten aufzuzäumen: Wenn die Zentralbanken heute alles tun, um den Zins unten zu halten, sorgen sie damit dafür, dass ein wichtiges wirtschaftliches Maß, das für Gegenwartspräferenz, völlig verzerrt wird. Es spiegelt mit dem aktuellen Stand nicht weit von Null ein scheinbares unerschütterliches Vertrauen in die Zukunft vor. Aus der keynesschen Erwägung heraus, die Wirtschaft aus der Liquiditätsfalle herauszuführen (in die sie sie selbst gebracht haben), versuchen sie parallel zu weiteren Zinsdrücker-Maßnahmen, die Inflation anzustacheln. Dieser Widersinn kann (zeitweilig) nur funktionieren, wenn sie oder die staatliche Wirtschaftspolitik weitere dirigistische Maßnahmen einleiten.

Sie haben dabei noch einen weiteren Aspekt im Auge: Bei einem steigenden Zins sinkt der Gegenwartswert zukünftiger Erträge (siehe z.B. hier), die heutige Nachfrage nach Vermögensgegenständen wird eher abnehmen. Umgekehrt steigt bei einem sinkenden Zins der Gegenwartswert zukünftiger Erträge, was die Asset-Nachfrage (cet. par.) anregt. Und so steigen Aktien, und steigen, und…

Ich habe im folgenden Chart die Zinsen von US-Staatsanleihen im kurzen, mittleren und langfristigen zu einem Mittelwert zusammengefasst und seit 1977 dargestellt (dunkelblaue Linie). Mit der Durchschnittsbildung will ich erreichen, dass die Einflüsse aller Zeitebenen berücksichtigt werden. Im Chart sieht man erstens, dass die Zinsen seit ihrem Hoch im Oktober 1981 beständig nach unten laufen – ihr Mittelwert hat sich gegenüber dem Höchststand geviertelt. Gleichzeitig formiert sich ein abwärts gerichteter Keil, der nach Charttheorie für die Zukunft eher Aufwärtspotenzial ankündigt.

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Zukunft – wann ist das? Keynes sagte einmal: „In the long run we are all dead.“ So lange wird es vermutlich nicht dauern…

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