Zum Tod von Henry Kissinger

Henry Kissinger ist über 100 Jahre alt geworden. The Economist verlieh ihm die Titel „Führender Staatsmann“, „Meisterdiplomat“ und „Realpolitischer Stratege der Aussenpolitik“. Der Deutsch-Amerikaner entkam dem Holocaust, seine Eltern schickten ihn 1938 in die USA.

Während seiner Amtszeit als nationaler Sicherheitsberater ab Januar 1969 und als Aussenminister von 1973 bis Januar 1977 unter den Präsidenten Nixon und Ford gestaltetete Kissinger die Außenpolitik der USA. In diese Zeit fiel der Beginn der Entspannung mit der UdSSR, die Öffnung gegenüber China und seine Pendeldiplomatie im Nahen Osten.

Daneben fällt besonders Kissingers Rolle beim Sturz der Demokratie und der Errichtung der Diktatur in Chile, seine Verachtung für die Menschenrechte, sowie seine Unterstützung für schmutzige Kriege, geheime Bombenangriffe in Südostasien und seine Beteiligung an kriminellen Machenschaften der Nixon-Administration negativ ins Gewicht.

Der Zweck heiligt die Mittel – Kissinger war ein Machtpolitiker und hatte ungezählte Verbrechen im Rahmen und im Namen der Außenpolitik der USA mit zu verantworten.

Unter Mitwirkung von Kissinger wurde im Herbst 1968 im Wahlkampf zur US-Präsidentschaft die südvietnamesische Regierung bedrängt, die laufenden Friedens-Gespräche abzubrechen. Nixon würde ihr ein besseres Angebot machen, sobald er den amtierenden Präsident Lyndon B. Johnson besiegt hätte. Aber nach wenigen Wochen im Amt beschloss der siegreiche Nixon zusammen mit seinem neuen nationalen Sicherheitsberater Kissinger die verdeckte Bombardierung der nordvietnamesischen Nachschubwege in Kambodscha und Laos. So sollte Ho Chi Minh zu den Bedingungen der USA an den Verhandlungstisch geholt werden. Die Bombenangriffe begannen am 17. März 1969 und dauerten über ein Jahr. Tausende von kambodschanischen Zivilpersonen wurden getötet. War da was mit Völkerrecht?

Als die New York Times dies im Mai 1969 publik machte, bat Kissinger den FBI-Direktor J. Edgar Hoover, bestimmte Journalisten und US-Beamte, einschliesslich seiner eigenen Mitarbeiter im US-National Security Council (NSC) abzuhören, um herauszufinden, wer Informationen an die Medien weitergab.

Die freigegebenen historischen Aufzeichnungen lassen keinen Zweifel daran, dass Kissinger für die Bemühungen der USA verantwortlich war, die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende in Chile zu destabilisieren. Er lehnte es kategorisch ab, mit der Allende-Regierung einen Modus Vivendi zu finden. Nachdem die Streitkräfte von General Augusto Pinochet gewaltsam die Macht übernommen hatten, gab Kissinger die Losung aus, Pinochet offen zu unterstützen. Er lehnte den Rat seines eigenen Botschafters in Chile ab, Pinochet eine direkte, harte Botschaft in Sachen Menschenrechte zu übermitteln.

Als der US-Kongress in der Folge der Pinochet-Unterstützung Gesetze vorbereitete, um US-Hilfe für ausländische, die Menschenrechte verletztende Regimes einschränken, eskalierte Kissingers Verachtung für die Menschenrechtsfrage. Seine Bereitschaft, Blutvergiessen, Folter und Verschwindenlassen durch verbündete, antikommunistische Militärregime zu billigen und zu unterstützen, spiegelt sich in verschiedenen freigegebenen Dokumenten wider.

Die Operation Condor begann Mitte 1976, Gegner der südamerikanischen Militärdiktaturen überall in der Welt aufzuspüren und zu töten. Speziell von der CIA ausgebildete Geheimdienstagenten und Soldaten durften sich auf dem Territorium der anderen Staaten frei bewegen, um politische Gegner zu eliminieren. Kissinger stand dem wohlwollend gegenüber und verlangte die Übergabe einer entsprechenden Demarche an die Diktaturen in Chile, Argentinien und Uruguay. Kurze Zeit später, am 21. September 1976, führte Condor, resp. Agenten Pinochets, in der Innenstadt von Washington D.C. einen Anschlag durch. Eine Autobombe tötete den ehemaligen chilenischen Botschafter Orlando Letelier und einen Begleiter.

Unter der Militärdiktatur in Argentinien verschwanden über die Jahre Zehntausende, deren Verbrechen es war, für Menschenrechte einzustehen. Die Verschwundenen wurden in KZs gefoltert, wurden umgebracht, oft aus Flugzeugen über dem Meer abgeworfen. Kinder von verschwundenen Schwangeren wurden Paaren aus der willfährigen Oberschicht übergeben, um den Völkskörper zu reinigen, wie es hieß.

Henry Kissinger hat als US-Außenminister von 1973 bis 1977 seine Variante der Realpolitik praktiziert – die Koexistenz mit Autokraten oder Diktatoren, wenn es das Eigeninteresse gebietet. Das war den Neokonservativen zu wenig moralisch und auch zu sehr am Status quo orientiert. Die große Wende in der US-Außenpolitik gelang aber erst Ende der 1990er Jahre, und dann besonders mit dem „War on Terror“ als Reaktion auf die Anschläge von „9/11“.

Im Jahr 1974 schrieb Henry Kissinger im bis 1989 geheimen National Security Study Memorandum NSSM 200: „Das oberste Gebot der US-Außenpolitik ist die Bevölkerungsreduktion – in anderen Ländern“. Die wachsenden Massen könnten „leicht dazu überredet werden, die rechtmäßigen Institutionen der Regierung anzugreifen – oder das Eigentum des 'Establishments', der 'Imperialisten' und der multinationalen Konzerne". Kissinger forderte in dem Memorandum eine globale Kampagne, gesteuert über Massenmedien, Schulbildung, Lebensmittelverknappung und andere politische Zwangsmaßnahmen zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums. Vor allem „Nahrungsmittel“ und deren Verteilung sollten als „Werkzeug nationaler Machtausübung“ genutzt werden (siehe hier!).

Klaus Schwab, der Gründer des WEF, wurde 1967 während seiner Zeit in Harvard von Henry Kissinger unterrichtet. Über ihn sagte Schwab später, er gehöre zu den drei bis vier Persönlichkeiten, die sein Denken maßgeblich beeinflusst haben.

Kissinger wurde auch durch den deutschen Philosophen Oswald Spengler geprägt, wie er in seinen Memoiren schrieb. Spengler lehnte den Rationalismus in der Politik ab, weil ein Staat durch permanente Abwägungen faktisch handlungsunfähig werden kann. Kissinger zog daraus den Schluss, dass „der Staatsmann ausdauernd und intuitiv Entscheidungsmöglichkeiten wahrnehmen muss, um das Schicksal seines Volkes zu gestalten.“

George Friedman von Geopolitical Futures schreibt zum Tode von Kissinger: „Er war weder ein Mann, um den man trauern konnte, noch einer, der in aller Stille von uns ging.“

Und weiter: „Kissinger sah die Welt in Form von Menschen. Er kannte die Menschen und versuchte zu beeinflussen, was sie tun würden.“ Im Gegensatz dazu charakterisiert Friedman seinen eigenen Standpunkt so: „Ich sehe die Menschen als Gefangene der geopolitischen Realitäten und habe mir zum Ziel gesetzt, diese Realitäten zu verstehen, ohne zu glauben, dass dies durch das Verständnis der Seele eines Führers beeinflusst werden kann.“

Außerdem habe Kissinger Macht gewollt, die er auch nach seinem Ausscheiden aus der Regierung noch ausübte. Er, Friedman, hingegen betrachtet Macht als eine Illusion – die Geschichte bewege sich nicht durch guten oder schlechten Willen.

[Unter Verwendung von Material aus „Ein unbehelligter Kriegsverbrecher", anderes ist im Text verlinkt]

Ergänzung
Siehe auch „SCOTT RITTER: Kissinger – War Criminal Who Saved the World

Amerika21: „Die Tageszeitung Diario Universidad de Chile erinnert daran, dass Kissinger an der Errichtung mehrerer Diktaturen in Lateinamerika beteiligt war, wie die in Chile (1973 – 1990) und in Argentinien (1976 – 1983), ebenso an der Operation Condor. Als ‚Plan Condor‘ oder ‚Operation Condor‘ wird die Zusammenarbeit verschiedener südamerikanischer Geheimdienste und der USA in den 1970er und 1980er Jahren bezeichnet. (…) im Zeitraum von 1970 bis 1990 [tauschten] Chile, Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Bolivien und später auch Ecuador und Peru Geheimdienst-Informationen über linke Aktivisten und andere Oppositionelle aus. Diese Zusammenarbeit hatte zum Ziel, jedwede politische Opposition zu erfassen und Gegner der Diktaturen zu eliminieren. Speziell von der CIA ausgebildete Geheimdienstagenten und Soldaten durften sich auf dem Territorium der anderen Staaten frei bewegen, um politische Gegner, die ins Exil gegangen waren, zu entführen, verschwinden zu lassen und zu ermorden. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden bei dieser Operation 50.000 Menschen ermordet, 350.000 sind verschwunden und 400.000 wurden inhaftiert. Die USA spielten die führende Rolle im Plan Condor, wie ein im Jahr 2017 veröffentlichter CIA-Bericht erneut bestätigte.“ (h/t multipolar)

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