Der Soziologe Wolfgang Streeck war bis zum vergangenen Jahr Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Er begründete kürzlich im Gespräch mit der „Wirtschaftswoche“, warum der Kapitalismus von selbst verenden wird.
Untergangspropheten gibt es genug – schon David Ricardo glaubte, dass der Kapitalismus nicht lange dauern kann. Dass Karl Marx dieses postulierte, verwundert nicht. Aber auch Werner Sombart und Max Weber sahen in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts sein Ende voraus. Später schrieb Keynes, dass seine Enkel nicht mehr in einer kapitalistischen Gesellschaft leben würden. Und Schumpeter erwartete in seinen späten Jahren, dass die Sozialdemokratie das kapitalistische Unternehmertum ersticken würde, weil es anhaltend zu große gesellschaftliche Unruhe mit sich bringt.
Und jetzt Streeck: Er blickt zurück in die 1970er Jahre, als die wirtschaftliche Dynamik nach dem Zweiten Weltkrieg erlahmte. Damals schaffte man das Währungsregime von Bretton Woods ab, suchte Lösungen zur Ankurbelung von Wachstum und zur Beschwichtigung der Verteilungsprobleme, und fand sie in Inflation, Staatsverschuldung und Aufblähung des Finanzsektors. Streeck: „Alle diese Lösungen sind hochgefährlich! Denn es sind nur Zwischenlösungen, die sich in Probleme verwandelten und daher unter erheblichen Schwierigkeiten abgelöst werden mussten durch neue Zwischenlösungen.“ Jetzt versucht man es mit der Verlängerung der Bilanzsummen der Zentralbanken – für Streeck nur eine weitere Zwischenlösung, die weitere Probleme mit sich bringt.
Streeck sieht die politischen Entscheidungsträger im Alarmzustand. Schon im Konjunktureinbruch der 1970er Jahre hatte man das Schreckgespenst der Weltwirtschaftskrise von 1929 vor Augen, die letztlich nicht durch wirtschafts- und finanzpolitische Mittel, sondern erst durch den Zweiten Weltkrieg gelöst wurde. Die Ratlosigkeit ist heute mindestens so groß wie damals. Larry Summers, unter Clinton für die Deregulierung der Finanzmärkte verantwortlich und zeitweilig Wirtschaftsberater von Obama, spricht von „säkularer Stagnation“. Wirtschafts-Nobelpreisträger Krugman will Crashs riskieren und gefährliche Kredite vergeben, um die Wirtschaft anzukurbeln. Niemand hat eine schlüssige Antwort auf drängende Fragen, etwa warum die Geldflut kein Wachstum bringt, ob Deflation gefährlicher ist als Inflation usw. Streeck: „Da herrscht doch die schiere Panik.“
Streeck sieht als wichtigste Symptome des Niedergangs des Kapitalismus den anhaltenden Rückgang der Wachstumsraten, der sich seit 2008 verschärft hat (siehe z.B. hier, sowie die Serie "Wachstumsillusionen" hier, hier und hier!). Damit in engem Zusammenhang steht die extreme Zunahme der Verschuldung im privaten wie im öffentlichen Sektor. Und drittens ist da die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit, wie sie etwa Piketty analysiert hat.
Streeck sagt: „Die drei Jahrzehnte nach dem Krieg prägen unser Bild einer halbwegs demokratischen, einigermaßen stabil funktionierenden kapitalistischen Gesellschaft bis heute.“ Man müsse aber den Blick schärfen für Zeichen, die darauf hindeuten, dass sich Zerfall und Agonie breit macht. In allen europäischen Ländern verstehen die Menschen immer weniger, was um sie herum vorgeht. Sie verstehen die Politik nicht mehr, deshalb gehen sie auch nicht mehr wählen. Das Leben des Einzelnen verliert immer mehr an Struktur, es gibt kaum noch Planungssicherheit. Die Politik könne daran nichts ändern, ihre hohe Kunst „besteht zunehmend darin, so zu tun, als habe sie die Kontrolle, obwohl alle wissen, dass ständig alles Mögliche passieren kann und auf nichts Verlass ist.“
Die zunehmende Unsicherheit bringt viele lokale Bewegungen hoch, „einige davon sehr hässlich.“ Mit sinkender Wahlbeteiligung steigt der Stimmenanteil der radikaleren Parteien. Aber diese liefern auch keine instrumentellen Antworten auf die Probleme. Zudem werden sie von der etablierten Politik ausgegrenzt und dadurch auf reinen Protest reduziert. So entsteht keine neue Ordnung, sondern nur weitere Unordnung.
Diese Bestandsaufnahme steht in scheinbarem Widerspruch dazu, dass Menschen aus den weniger entwickelten Länder in die entwickelten kapitalistischen Länder streben. Sie treibt der Wunsch, so reich zu werden wie die Amerikaner in den TV-Serien. In der Realität wird ihre Überzahl aber immer ärmer, so wie heute die meisten Südeuropäer auch. Streeck: „Selbst unter kapitalistischen Bedingungen ist die Konsumierbarkeit der Welt bekanntlich begrenzt. Es wird keine globale Verallgemeinerung des Konsumkapitalismus geben können.“
Damit der Kapitalismus als gesellschaftliches Konzept funktioniert, muss er sein grundlegendes Versprechen einlösen, dass aus dem Selbstinteresse vieler Einzelner kollektiver Fortschritt und Nutzen für alle erwächst (Anm.: Die unsichtbare Hand von Adam Smith). Die heutige globalisierte Gesellschaft hat aber diese Fähigkeit mehr oder weniger verloren, private Laster (wie Gier) in öffentliche Tugenden zu verwandeln. Streeck verweist hier auf die Steuermoral und die von Piketty dokumentierte zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Streeck: "Der Kapitalismus wird den Teufel tun und sich selber begrenzen, auch wenn Gier allein keine stabile Gesellschaftsordnung erzeugen kann.“
Eine globale Ordnungsmacht, die den institutionellen Rahmen für einen im obigen Sinne funktionierenden Kapitalismus schafft und garantiert, gibt es nicht. Sie gibt es nicht im Kern. Und sie gibt es nicht an der Peripherie, die Länder hier sind nicht stabil, weisen mafiöse und oligarchische Strukturen auf. Ihre institutionelle Infrastruktur ist unterentwickelt, es bräuchte noch Jahrzehnte, um sie aufzubauen. Und im Westen verfällt sie zunehmend.
Streeck gibt keine Prognose, er warnt vor dem langsamen Zerfall der kapitalistischen Ordnung: „Eine Gesellschaft ohne Sicherheit und Solidarität, von Zynismus zerfressen und ständig von platzenden Blasen bedroht, in der sich rettet wer kann, zusammengehalten durch grenzenlose Konsumlust am Rande der ökologischen Möglichkeiten – das kann nicht gutgehen.“
[Von Streeck stammt das Buch "Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus", erschienen bei Suhrkamp]
Ob der Kapitalismus so einfach "wegdiffundieren" wird, wie Streeck meint? Ansonsten ist seinen Ausführungen ist nicht viel hinzuzufügen. Vielleicht aus aktuellem Anlass dies: Auch die vermehrten politisch/religiös motivierten Anschläge sind Ausdruck der zunehmenden Regel- und Orientierungslosigkeit, sowie damit verbunden des Aufkommens radikaler Strömungen ohne konstruktive Perspektive.
Karl Marx hat zum Wechsel von Gesellschaftsepochen sinngemäß einmal so formuliert: Wenn die herrschenden Produktionsverhältnisse zum Hemmschuh für die Entwicklung der Produktivkräfte werden, hat sich die gegebene Gesellschaftsordnung historisch überlebt.
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