Deutsche Wahlen – letzte Chance für die Eurozone?

Timothy Garton Ash formuliert im „Guardian“ einen flammenden Aufruf an die deutsche Politik, mehr zu tun für Europa – und zwar im ureigensten Interesse. Ich bringe eine gekürzte Übersetzung als Beispiel für eine bestimmte Argumentationslinie in der Mainstream-Presse und setze mich anschließend kritisch damit auseinander.

Deutschland und die EZB haben fürs erste gerade genug getan, um die Märkte davon zu überzeugen, dass die Eurozone überlebt. Aber die Lage vieler Mitgliedsländer bleibt kritisch. Einige haben heroische Anstrengungen unternommen und sichtbare Ergebnisse erzielt. In Spanien etwa sind die Lohnstückkosten geunken, die Exporte stiegen auf ein 30-Jahres-Hoch. Das gelang unter immensen Belastungen – die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 50%, die Hauspreise sind um bis zu 40% gefallen, die Bevölkerung wurschtelt sich irgendwie durch. Zwar gab es etwa in Katalonien politisch zentrifugale Erscheinungen, aber bis jetzt hält die Mitte.

Was in Spanien geschah, ist ein bemerkenswertes Zeugnis der Beständigkeit des politischen Mainstreams mit seinem fast instinktiven Hang zu Mäßigung, die aus einem tief verwurzelten Wunsch herrührt, ein Teil des größeren europäischen Ürojekts zu bleiben. Fragt sich nur, wie lange. Wie lange können diese Gesellschaften einen solch großen sozioökonomischen Druck aushalten, bis politische Extreme die Oberhand gewinnen?

Entsprechende Gefahren wurden bei den griechischen Wahlen im vergangenen Jahr mit der neofaschistischen Partei „Golden Dawn“ sichtbar. Von ganz anderer Art, aber politisch viel einflussreicher, ist das, was in Italien geschehen ist. Hier herrscht jetzt ein Patt zwischen der Protestbewegung von Beppe Grillo und anderen politischen Kräften, u.a. um Berlusconi herum. Reformen sind so in der drittgrößten Wirtschaft der Eurozone praktisch lahm gelegt.

Einiges an der aktuellen Situation war unvermeidbar, aber sie wurde durch menschliche Fehler im allgemeinen und deutsche Fehler im besonderen verschlimmert. Ich (Timothy Garton Ash) kann die erste ärgerliche Reaktion der deutschen Wähler gut verstehen, als sie aufgefordert wurden, andere Europäer herauszuhauen, die weniger diszipliniert, weniger hart arbeitend und weniger produktiv sind wie sie selbst, nur um eine Währung zu retten, für die sie nie gestimmt haben.

Wenn sich die Umstände ändern oder die Lage klarer wird, muss sich die Politik entsprechend bewegen. Es ist in einer gut funktionierenden liberalen Demokratie Aufgabe der Politiker, die Fakten anzuerkennen und sie den Wählern zu erklären und sie nicht mit irgendwelchen Nettigkeiten und falschen Bersprechungen hinzuhalten. So hätten die Politiker längst zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln müssen, dass die Multiplikatoren der öffentlichen Ausgaben über eins gestiegen sind (siehe uch hier). Normalerweise liegen sie bei 0,2 bis 0,4, aber in einer umfassenden Rezession sieht das eben anders aus. Das belegen auch historische Lehren aus der Zeit der Großen Depression der 1930er Jahre.

Die Anpassungslasten werden momentan der südlichen Peripherie aufgebürdet. Man kann dem leichfertigen Kreditnehmer im Süden die Schuld in die Schuhe schieben, aber zugleich muss man mit dem Finger auf die kurzsichtigen Kreditgeber im Norden zeigen, etwa auf die deutschen Banken. Es braucht eben zwei für die Misere.

Deutschland hat mehr zu verlieren als irgendein anderes Land, wenn es zum Kollaps der Eurozone kommt. Die deutschen Banken haben Forderungen in Höhe von insgesamt rund 400 Mrd. Euro gegen Griechenland, Spanien, Portugal und Irland. Aber es geht weiter: Im vergangenen Jahr hat der deutsche Sachverständigenrat den maximal möglichen Verlust deutscher Gläubiger bei einem Zusammenbruch der Eurozone mit 2,8 Bill. Euro beziffert. Das übersteigt das deutsche BIP mit 2,65 Bill. Euro. Und: Jede andere Nachfolge-Währung hätte einen für die deutsche Export-Industrie weniger vorteilhaften Außenwert zur Folge.

Deutschland muss mehr tun – nicht aus irgendwelchen ideellen Gründen, sondern im eigenen Interesse. Es muss seine Binnennachfrage stärken, eine starke Bankenunion unterstützen, eine begrenzte Sozialisierung der Eurozonen-Schulden zulassen – mit geeigneten harten Auflagen. Der beste Zeitpunkt dafür ist schon vorbei. Das war zu Zeiten den sogenannten Monti Moments, als der als italienischer Premierminister mannhaft darum gerungen hat, in Italien das Richtige zu tun, aber gleichzeitig Deutschland drängte, sich ebenfalls zu bewegen.

Jetzt hat Deutschland eine zweite Chance. Wer auch immer aus den Parlamentswahlen im September als Bundeskanzler hervorgeht, in welcher Koalition auch immer, muss sich bewegen, um die Eurozone zu retten. Damit es keine Krise des Euro, sondern nur eine im Euro gibt. Die “europäischen Wahlen” sind im Juni 2014, aber die wirklich entscheidenden Wahlen für Europa sind alle national, besonders die deutsche.

Reiner Zufall, dass Deutschland vor dieser Herausforderung steht, wenn sich 1914 zum hundertsten Male jährt. Deutschland, nutze Deine zweite historische Chance!

Ich bringe diesen Artikel stellvertretend für eine bestimmte Richtung in der Mainstream-Presse. Mir ist nicht erinnerlich, dass es eine ähnlich breite und gleichförmige Strömung in der Mainstream-Presse gab, die seinerzeit den Bruch der europäischen Verträge hinsichtlich Budgetdefizit und Verschuldungsquote geißelte. Wo waren diese Damen und Herren damals? Haben Sie mit derselben Eindrücklichkeit und demselben journalistischem Geschick die Alarmglocke geläutet? Allein das macht solche Artikel und die dahinterstehende Einstellung schon fragwürdig.

Die Grundzüge dieser Argumentation ist immer gleich. Die Verfasser sehen die Situation jetzt und sagen, es ist fünf vor zwölf, etwas zu tun. Und was da getan werden soll, läuft immer "alternativlos" darauf hinaus, dass die Schulden vergemeinschaftet werden sollen und die Nordländer ihre Binnenachfrage anheizen müssen.

Meist sind solche Forderungen auch noch verknüpft damit, dass das demokratische System in der Eurozone lobgepriesen wird. Es wird nicht einmal ansatzweise gefragt, warum die europäische Politik so ist wie sie ist. Auch stellt der Artikel zwar richtig heraus, dass die Sparpolitik der EU-Kommission den Multiplikatoreffekt weitgehend unberücksichtigt lässt, aber nach den Motiven für eine solche Sparpolitik wird erst gar nicht gefragt.

Das gilt generell – Frage nach den Ursachen einer Entwicklung bis zu dem Punkt, wie es jetzt ist? Fehlanzeige!

Dabei liegt die Lösung des Problems genau in der Antwort darauf. Mit dem fortwährenden Bruch der europäischen Verträge wurde ein Bankensystem aufgeblasen, das nur so lange in dieser Form bestehen konnte, so lange die Verschuldungsorgie in der südlichen Peripherie noch weiterging. Jetzt muss es von der EZB alimentiert werden und die Tatsache, dass die Bankenüberwachung künftig hier angesiedelt werden soll, lässt erwarten, dass das Zombie-Banken letztlich auf Kosten des Steuerzahlers weiter am Leben gehalten werden. Eine solche Bankenüberwachung löst kein Problem – sie ist das Problem. Die Vergemeinschaftung der Staatsschulden liegt genau auf dieser Linie, sie stützt dieses Bankensystem weiter und erhält den Status quo.

Schon rein logisch leuchtet mir nicht ein, wie die Schäden aus dem Bruch der europäischen Verträge dadurch geheilt werden sollen, dass diese nun völlig missachtet werden. Und auch wenn im Zusammenhang mit der Vergemeinschaftung der Schulden von harten Auflagen gesprochen wird: Wer garantiert, dass diese diesmal nicht wieder gebrochen werden wie die europäischen Verträge seit 2003?

Alle Vorschläge solcher Mainstream-Artikel laufen darauf hinaus, die Herausbildung freier Märkte (in einem festen Ordnungsrahmen) zu verhindern. Mit jeder Intervention wird die nächste notwendig (siehe auch "Euro-Krise: Politik kontra Markt".

Der Euro als Gemeinschaftswährung ohne (minimale) fiskalische Einheit war der zentrale Verstoß gegen simpelste ökonomische Leitsätze. Aus ihm ergaben sich letztlich alle anderen Fehler, vom Aufbau eines marktfernen bürokratischen Popanz in Brüssel angefangen bis hin zum Verstoß gegen die europäischen Verträge, bis zum ESM usw.

Wenn man den Weg weitergeht, den Timothy Garton Ash empfiehlt, erkauft man sich ein paar Jahre Zeit, in der die Einkommensunterschiede innerhalb der Eurozone explodieren und gleichzeitig dermaßen hohe volkswirtschaftliche Kosten angehäuft werden, dass dagegen keine Geldflut mehr ankommt. Diese Konsequenz muss man den Kosten gegenüberstellen, die durch ein rechtzeitiges Aufbrechen der Eurozone verursacht werden.

Der minimal erforderliche Schritt, der gegangen werden muss, ist meiner Meinung nach die Einrichtung einer Euro-Nord- und einer Euro-Süd-Zone. Damit werden Voraussetzungen für einen leichtere Anpassung geschaffen. Und dann muss das Bankensystem verkleinert werden. Statt Mittel einzusetzen, um Zombie-Banken am Leben zu halten, sollten diese Mittel zur Abfederung der Folgen der Bereinigung verwandt werden. Und dann sollte der bürokratische Apparat in Brüssel abgebaut, seine Befugnisse drastisch reduziert werden. Wem nützt es, wenn dort von der Krümmung der Banane bis zur Glühlampe alles in bislang über 100.000 Verordnungen gegossen wird? Werden die wirklichen Skandale dadurch verhindert? Nein. Eher im Gegenteil.

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