Israel, die Hamas und das Völkerrecht

Nachfolgend gebe ich den Inhalt eines Interviews teilweise im Wortlaut wider, das Legal Tribune Online mit Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen geführt hat. Er ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht sowie Direktor am Institut für Völkerrecht und Mitglied des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität zu Bonn.

Den Angriff der Hamas vor zwei Wochen wertet Prof. Herdegen als einen bewaffneten Angriff, der das Selbstverteidigungsrecht Israels nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) auslöst. Dieses Recht gilt auch bei Angriffen von nichtstaatlichen Organisationen – das ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001 Konsens.

Israel darf sich demnach gegen den Angriff verteidigen, auch mit massiven Militäroperationen in Gaza. Dabei darf es aber nicht um Vergeltung und Bestrafung für erlittenes Unrecht gehen, sondern ausschließlich um die Abwehr einer existenziellen Bedrohung. Ein sogenannter „regime change", also das gewaltsame Hinwirken auf einen Regimewechsel, liegt ebenfalls jenseits der Selbstverteidigung.

Die Hamas muss ihrerseits alles tun, um die eigene Zivilbevölkerung vor vermeidbaren Schäden zu schützen. Allerdings ist die Hamas die Urheberin eines bewaffneten Angriffs und macht massive Opfer unter der eigenen Bevölkerung zum Teil ihrer Strategie. Ein militärischer Gegenschlag des Angreifers hat keine völkerrechtliche Entsprechung zum Selbstverteidigungsrecht.

Israel darf sich so lange auf sein Selbstverteidigungsrecht berufen, bis die Bedrohung verlässlich ausgeräumt ist. Das wäre der Fall, wenn das Aggressionspotenzial der Hamas völlig neutralisiert wird oder die Hamas zuverlässig zu erkennen gäbe, dass sie von solchen Angriffen dauerhaft Abstand nehmen wird.

Israel kann sich auch dann auf sein Selbstverteidigungsrecht berufen, wenn die Hamas zwar keine Angriffe mehr verübt, aber noch Geiseln in ihrer Gewalt hat. Denn das drückt aus, dass die Hamas das Angriffsgeschehen fortführen will. Für das Selbstverteidigungsrecht Israels ist es nicht erforderlich, dass jeden Tag oder jede Woche ein Anschlag erfolgt. Es reicht aus, wenn das Terrorpotenzial und die Absicht fortbestehen, immer wieder Terroranschläge zu begehen.

Israel muss sich bei der Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts an Regeln halten. Unabhängig davon, ob man den Konflikt als internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und Palästina oder als nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der Hamas ansieht, gelten die Regeln des humanitären Völkerrechts.

Dazu zählen insbesondere das Gebot der Schonung der Zivilbevölkerung sowie die strikte Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und zivilen Opfern. Diese dürfen allenfalls als unbeabsichtigte Folge von zulässigen Kampfhandlungen in Mitleidenschaft an Leib, Leben und Eigentum gezogen werden. Die Regelungen in den Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen gelten im Kern völkergewohnheitsrechtlich. Somit gelten sie auch für Israel, das diese Protokolle nicht ratifiziert hat.

Zudem findet der Art. 3 der Genfer Rotkreuz-Konventionen Anwendung, der das „humanitäre Minimum" in jedem Konflikt darstellt: Angriffe auf Leib und Leben von Zivilpersonen, Tötungen, Verstümmelung, entwürdigende Misshandlungen, die Gefangennahme von Geiseln und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil sind geächtet.

Das Gebot der Schonung der Zivilbevölkerung nach Art. 57 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen ist einer der wichtigsten Grundsätze des Humanitären Völkerrechts. Umgesetzt werden kann und muss es, indem gewarnt und aufgefordert wird, das Kampfgebiet zu verlassen. Bei einzelnen Militärschlägen gegen bestimmte Gebäude ist das oft ohne Probleme möglich, etwa durch das sogenannte „Roof Knocking", also eine kurze Vorwarnung, damit die Zivilpersonen das Gebäude verlassen können. Zur israelischen Praxis scheinen auch telefonische Vorwarnungen zu gehören.

Bei einer großangelegten Bodenoffensive ist die Schonung der Zivilbevölkerung schwierig. Zudem macht die Hamas die Deckung durch die Zivilbevölkerung gewissermaßen zum Teil ihres Kampfes. Sie führt die Angriffe aus einem dicht besiedelten urbanen Gebiet heraus und verteidigt sich unter Inanspruchnahme menschlicher Schutzschilde. Eine solche Strategie kann nicht dazu führen, dass die Gegenseite ihr Selbstverteidigungsrecht nicht mehr ausüben kann.

Wenn eine Seite alles tut, um gegnerische Warnungen zu vereiteln, die eigene Bevölkerung zum Bleiben auffordert oder daran hindert, die Kampfzone zu verlassen, wenn eine Seite den bewaffneten Konflikt auf eine solche Art gezielt auf dem Rücken der eigenen Zivilbevölkerung austrägt, dann ist das ein schwerer Bruch des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.

Israel hat mehr als eine Million Menschen aufgefordert, den Norden des Gazastreifens innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Prof. Herdegen kann im Augenblick in diesen Warnungen kein völkerrechtswidriges Verhalten Israels erkennen. Die Aufforderung sieht er als Versuch, in einem komplexen Umfeld eine militärische Reaktion mit möglichster Schonung der Zivilbevölkerung zu verbinden. Das sei legitim und kein Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung oder Überführung im Sinne von Art. 8 Abs. 2a VII des Römischen Statuts des IStGH (Rom-Statut).

Die Menschen in Gaza erhalten keine humanitäre Hilfe, da Israel die Zugänge zum Gazastreifen blockiert und Ägypten den Grenzübergang Rafah geschlossen hat – der Einzige, der nicht von Israel kontrolliert wird. Jetzt soll der Grenzübergang wohl zeitweilig geöffnet werden. Hat sich Ägypten durch seine Weigerung, die Grenze zu öffnen, völkerrechtswidrig verhalten?

Auch bei einer Blockade soll es im Rahmen des Möglichen und militärisch Zumutbaren eine Art „humanitären Korridor" geben. Die Öffnung nach Ägypten hin wäre eine Möglichkeit, einen solchen Korridor zu schaffen. Allerdings ist Ägypten an dem Konflikt nicht beteiligt. Insofern ist es nicht verpflichtet, das eigene Gebiet für den Zustrom von Flüchtlingen zu öffnen und sich so auch der Gefahr auszusetzen, dass Hamas-Terroristen in das Land kommen.

Politisch wäre es wünschenswert, dass die humanitäre Situation der Zivilbevölkerung in Gaza erleichtert wird, indem Ägypten den Grenzübergang zumindest vorübergehend öffnet. Eine völkerrechtliche Verpflichtung besteht für das Land aber nicht.

Israel hatte die Lebensmittel-, Wasser-, Strom- und Treibstoffversorgung des Gazastreifens vollständig eingestellt, sodass die humanitären Probleme noch verschärft werden. Ist das rechtmäßig?

Das humanitäre Völkerrecht geht davon aus, dass man der Bevölkerung den Zugang zu existenziellen Ressourcen ermöglichen muss. Dazu zählen Wasser, Medikamente und Lebensmittel. Bereitstehende Lieferungen von Medikamenten und Lebensmitteln müssen also weitergeleitet werden. Israel hat die Wasserversorgung für den südlichen Teil des Gazastreifens zunächst abgestellt, jetzt aber wieder ermöglicht.

Bei der Versorgung mit Strom und Treibstoff ist laut Prof. Herdegen zu differenzieren. Möglicherweise besteht das Risiko, dass die Hamas einen Teil dieser Ressourcen für militärische Zwecke abzweigt. Dadurch seien die humanitären Pflichten Israels eingeschränkt, weil das militärische Potential des Gegners nicht mit Ressourcen alimentiert werden muss.

Ich frage mich nur, inwiefern z.B. Strom eine erhebliche Bedeutung als Ressource für die Hamas hat. Werden deren Raketen schon mit Strom betrieben? Hier kann man es sich aus meiner Sicht nicht so einfach machen und Israel humanitärer Pflichten entbinden. Auch die Wasserversorgung unterstützt letztlich die Hamas. Zudem muss erwähnt werden, dass Israel schon lange die Wasser- und Stromvergung immer wieder unterbricht – bis zu 18 Stunden am Tag. Das alles stellt aus meiner Sicht eine Verletzung des humanitären Völkerrechts dar.

Palästina hat den Beitritt zum Rom-Statut erklärt. Ob dieser Beitritt wirksam ist, wird in der Völkerrechtslehre nicht einheitlich beantwortet – u.a. deshalb, weil der Status von Palästina als Staat im Sinne des Völkerrechts unterschiedlich gesehen wird. Momentan geht Prof. Herdegen nicht davon aus, dass die palästinensische Regierung in Ramallah hinter dem Angriff der Hamas auf Israel steckt. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat sich ausdrücklich von dem Angriff distanziert.

Kann der Iran für das Geschehen mitverantwortlich gemacht werden? Prof. Herdegen: Es ist hinlänglich bekannt, dass das Mullah-Regime die Hamas finanziell unterstützt. Auch wenn ein Staat den Angriff selbst nicht ausübt oder ihn auch nicht direkt steuert, liegt bei einer finanziellen, logistischen oder sonstigen Unterstützung eine Völkerrechtsverletzung vor (Verletzung des Gewaltverbots nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta).


Ich bin kein Jurist, „komme nicht vom Völkerrecht" und will da auch nicht hin. Die obige Darstellung dürfte aber wohl der aktuellen internationalen völkerrechtlichen Einschätzung entsprechen. Weitere Stimmen zum Völkerrechts-Thema finden Sie hier: Beobachter haben auch Israel in der Vergangenheit immer wieder aus unterschiedlichem Anlass Verletzungen des Völkerrechts vorgeworfen.

Es ist bekannt, dass der israelische Ministerpräsident Netanjahu die Finanzierung der Hamas durch Katar zumindest duldet, wenn nicht gefördert hat (Bibi-Doktrin – siehe hier). The Times of Israel schreibt dazu: „Jahrelang hat Netanjahu die Hamas gestützt. Jetzt ist es uns um die Ohren geflogen.“ Netanjahu wollte wohl die Differenzen zwischen der Hamas und der palästinensischen Regierung vertiefen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Wie war das noch mit der völkerrechtlichen Würdigung der Rolle des Iran? Müsste die Bibi-Doktrin in diesem Konfflik nicht auch einmal völkerrechtlich bewertet werden?

Auch hier gilt: Man darf den historischen Kontext nicht negieren und die Geschichte von Israel und den Palästinensern erst am 7. Oktober beginnen lassen. So wie das momentan Usus ist. In diesem Sinne haben in diesem Konflikt im Nahen Osten beide Seiten über viele Jahrzehnte immer wieder gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Es geht nur so, dass sich die Parteien an einen Tisch setzen und verhandeln.

Das könnte Sie auch interessieren:

Bewertung: 5.0/5
Please wait...
blank
Schlagwörter: ,