Seymour Hersh hat vor einigen Tagen berichtet, dass US-Präsident Biden den Befehl zur Zerstörung der Nord Stream Pipelines gegeben hat. Die Überlegungen dazu begannen demnach schon vor Weihnachten 2021. Hersh, Täger des Pulitzerpreises, gilt als die Ikone des Investigativjournalismus. Er wurde 1969 weltbekannt, als er die Kriegsverbrechen der US-Armee im Massaker im vietnamesischen Mỹ Lai aufdeckte. 2004 publizierte er zum Folterskandal der US-Armee im irakischen Abu-Ghuraib-Gefängnis.
Ich halte die Darstellung von Hersh für glaubwürdig. Schon vorher sprachen Indizien dafür und auch die Antwort auf die Frage „wem nutzt es“ wies in die gleiche Richtung. Hinzu kommt, dass Biden öffentlich angekündigt hatte, dass die USA den Betrieb der Pipelines stoppen würden.
Am 7. Februar 2022, gut zwei Wochen vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, sagte Biden auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus, die er mit Bundeskanzler Olaf Scholz abhielt, dass die USA Nord Stream stoppen würden. Wörtlich: „Wenn Russland einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben, wir werden dem Projekt ein Ende setzen.“ Seine stellvertretende Außenministerin Victoria Nuland, tief in die Geschehnisse der Maidan-Revolution im Jahr 2014 verwickelt, hatte sich ein paar Wochen zuvor ähnlich geäußert. Und freute sich später über die gelungene Sabotage.
Interessant, wie Hersh im Verlauf eines Interviews mit der Berliner Zeitung berichtet, dass die Sache den Leuten, die sie vorbereitet haben, zunehmend zuwider wurde, er schildert das zeitweilige Zögern von Biden. Den Ausschlag gab offenbar die Sorge, Deutschland könnte die Sanktionen wegen eines kalten Winters aufheben. Hersh berichtet über Zorn und Ablehnung bei den Beteiligten nach Durchführung des Anschlags. Darin, in der tiefen Sorge, das Land befinde sich in großer Gefahr, sieht Hersh auch den Grund, warum er so viel erfahren hat.
Hersh sagt, es mache ihm Angst, dass der US-Präsident zu so etwas bereit war. Das wird auf lange Sicht nicht nur seinen Ruf als Präsident beschädigen, sondern auch politisch sehr schädlich sein. Diese Geschichte hätte das Potenzial, die Fähigkeit unseres Präsidenten zu zerstören, das amerikanische Volk hinter dem Krieg zu versammeln, weil sie etwas zeigt, das so dunkel und so unamerikanisch ist. Es sei ein Stigma für die USA.
Die mächtigste Nation der Welt zerstört ohne Absprache oder Gerichtsverfahren die kritische Infrastruktur anderer Länder. Hochrangige Berater in der Biden-Administration sowie der Präsident selbst haben vorsätzlich einen feindlichen Akt gegen einen langjährigen Freund und Verbündeten, Deutschland, verübt.
Bidens Beteiligung an diesem Akt offenbart, dass die USA das Recht beanspruchen, willkürlich zu entscheiden, welche Länder mit welchen anderen Ländern Handel treiben dürfen. Und wenn der Kauf und Verkauf von Energielieferungen aus irgendeinem Grund mit Washingtons übergeordneten geopolitischen Zielen kollidiert, dann glauben die USA, dass sie das Recht haben, die Infrastruktur zu zerstören, die einen solchen Handel möglich macht.
Aus der Sicht von Washingtons Außenpolitik-Experten war die deutsch-russische Wirtschaftsintegration eine ernsthafte Bedrohung für Amerikas dominante Rolle in der Weltordnung. Das entspricht ganz der Heartland-Doktrin, aus diesem Grunde war den USA „Nord Stream“ ein Dorn im Auge, und zwar nicht nur der jetzigen demokratischen Regierung, sondern auch der unter dem Republikaner Trump. Die Angst, es könnte ein gemeinsamer Wirtschaftsraum entstehen, der schließlich zur größten Freihandelszone der Welt hätte werden können, war der Antrieb hinter diesem Akt.
Die Haltung, die zu diesen Anschlägen geführt hat, ist exakt das Dogma der Neocons: Die USA müssten „mit zweierlei Maß messen" und eine auf Regeln basierende Ordnung verkünden, aber das Monopol auf Vertragsbruch und Gewalt aufrechterhalten, um den menschlichen Fortschritt voranzutreiben.
Wer zu solchen Mitteln greift, der könnte auch weiter gehen. Wir wissen nicht, welche künftigen Eskalationen die Neocons planen. Es könnte zum Beispiel sein, dass die USA bereits Pläne für die Lieferung von F-16 und Langstreckenraketen-Systemen haben, mit denen sie tiefer in russisches Gebiet vordringen können. Es könnte auch sein, dass die Neocons im Rahmen einer „false flag"-Operation eine Atombombe in der Ukraine zünden wollen.
In den Reihen der Neocons gab es immer Befürworter für einen begrenzten Einsatz von Atomwaffen. Im Herbst 2022 wurde die US-amerikanische 'Nuclear Posture Review' (NPR) veröffentlicht, die man als Rechtfertigung eines offensiven Einsatz von Atomwaffen zur Verteidigung ansehen kann.
Es könnte auch sein, dass Biden plant, eine „Koalition der Willigen" (Großbritannien, Polen, Rumänien und…) zu organisieren, die an der Seite von US-Spezialkräften in der Ostukraine kämpfen soll. Jede dieser Möglichkeiten stellt eine ernsthafte Eskalation der Feindseligkeiten dar, die einen direkten Zusammenstoß mit dem atomar bewaffneten Russland wahrscheinlicher macht.
Das alles könnte erklären, warum die Quelle von Hersh den Mut aufbrachte, ihm die belastenden Informationen über Nord Stream zu liefern. Sie könnte glauben, dass sich die Welt auf der Überholspur zur nuklearen Vernichtung befindet und deshalb riskiert sie so viel.
Auch Hersh riskiert viel. Er könnte angeklagt werden. Wenn Hersh nicht so angesehen wäre, würde er jetzt vielleicht das gleiche Schicksal erleiden wie Julian Assange. Was ist der Unterschied zwischen dem, was Assange getan hat, und dem Tun von Hersh? Nicht viel, außer der Tatsache, dass Hershs hervorragender Ruf ihn (hoffentlich) „unantastbar" macht.
Vom 20. bis 22. Februar, kurz vor dem Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine, wird US-Präsident Biden nach Polen reisen und mit dem polnischen Präsidenten Duda zusammentreffen. Wie es in der offiziellen Erklärung heißt, wird Biden mit Polen auch über die bilaterale Zusammenarbeit sprechen. Was bedeutet das? Polen will seine Armee stark vergrößern und seine Verteidigungs-Ausgaben im nächsten Jahr auf 3% des BIP und damit auf einen der höchsten Werte in der NATO bringen.
Biden wird im Rahmen dieses Besuchs auch mit führenden Vertretern der Bukarester Neun (B9), einer Gruppe von NATO-Bündnispartnern an der Ostflanke zusammenkommen. Es handelt sich um Rumänien, Polen, Ungarn, Bulgarien, die Tschechische Republik, die Slowakei und die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen. Alle neun Länder waren einst eng mit der inzwischen aufgelösten Sowjetunion verbunden. Soll eine Armee von Russophoben aufgestellt werden?
Vielleicht ist auch alles ganz harmlos.
Aber jetzt, da die russische Armee an allen Fronten vorrückt, könnten die verzweifelten Neokonservativen etwas Übles im Sinn haben. Die Website "The Son of a New American Revolution" berichtet, es wurden gerade Warnungen an ausländische Bürger herausgegeben, sich aus Weißrussland und Russland zu verziehen. Das französische und das kanadische Außenministerium forderte seine Bürger auf, Belarus unverzüglich zu verlassen. Die USA haben am Montag amerikanische Bürger aufgefordert, Russland sofort zu verlassen.
Zufall?
Die New York Times schrieb kürzlich: „Das Problem ist, dass die Ukraine den Krieg verliert. Soweit wir das beurteilen können, liegt das (…) daran, dass sich der Krieg zu einer Zermürbungsschlacht im Stil des Ersten Weltkriegs entwickelt hat, mit sorgfältig ausgehobenen Schützengräben und relativ stabilen Fronten. Solche Kriege werden in der Regel – wie auch der Erste Weltkrieg – von der Seite gewonnen, die über die demografischen und industriellen Ressourcen verfügt, um am längsten durchzuhalten.“
Das träfe mit Einschränkungen auf Russland zu. Aber beide Seiten hätten Anreize, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, schreibt das Blatt. Die USA hätten jedoch andere Pläne.
Schon einmal, Ende März 2022, schienen Moskau und Kiew einer Verhandlungslösung greifbar nahe zu sein, bis sie von der NATO und insbesondere von Großbritannien torpediert wurde (siehe hier!).
Der Krieg wird sich zweifellos weiter hinziehen. Je geringer die Erfolgsaussichten der Ukraine sind, desto verzweifelter, tollkühner und gewalttätiger könnten die Neocons agieren. Es könnte aber auch sein, dass die nach Hershs Bericht anzunehmende Spaltung in der US-Administration offen ausbricht und damit Schlimmeres verhindert. Oder in den Reihen der Nato-Verbündeten der USA bricht ein Konflikt aus mit demselben Resultat.
Bleibt die Frage: Was wusste Bundeskanzler Scholz von den Plänen der USA hinsichtlich der Nord Stream Pipeline?
[Unter Verwendung von Material aus dieser Quelle]Ergänzung:
Dieser Artikel erhebt Gegenrede gegen Hershs Bericht.
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