Julian Assange und das Mittelalter

Der australische Premierminister fordert die sofortige Freilassung von Julian Assange aus britischer Haft. Frau Baerbock hat sich dieser Forderung noch im September 2021 angeschlossen. Kaum Außenministerin der Ampel, hat man in dieser Hinsicht nichts mehr von ihr gehört. Wahrscheinlich hat sie es in ihrer strammen pro-USA-Haltung „vergessen“. Dabei soll sich „feministische“ Außenpolitik doch dadurch auszeichnen, die freiheitlichen Werte und die „Menschen" besonders im Blick zu haben.

Julian Assange hat als einer der Gründer der Wikileaks-Platform entscheidend dazu beigetragen, Verbrechen der USA gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht aufzudecken. Die USA werfen ihm „Spionage“ vor, es drohen bis zu 175 Jahre Haft. Er konnte sich einige Jahre in der Londoner Botschaft Ecuadors aufhalten. Auf Druck der USA wurde er schließlich vor die Tür gesetzt und befindet sich seitdem in britischer Haft, im Londoner Hochsicherheits-Gefängnis Belmarsh.

„Haft“ ist ein nettes Wort für das, was die britische Justiz Assange antut. In einer Zelle von 2*3 Metern ist er Tag und Nacht alleine. Der ehemalige UN-Sonderbeauftragte Nils Melzer bemerkte schon 2019 Anzeichen von Folter bei Julian Assange. Er beschreibt in seinem Buch über den Fall Assange, wie der Wikileaks-Gründer staatlicher Willkür und psychischer Folter ausgesetzt ist.

Im Januar 2021 hatte das Londoner Bezirksgericht die Auslieferung Assanges an die USA aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt. Die US-Seite legte Berufung ein, der High Court hob das Urteil des Bezirksgerichts im Juni 2022 auf. Er befand, dass Assange, der während der Verhandlung einen leichten Schlaganfall erlitt, körperlich und psychisch fit sei und ausgeliefert werden könne. Aktuell findet eine Anhörung statt, Assanges Anwälte beantragen ein Berufungsverfahren gegen das ursprüngliche Bezirksgerichts-Urteil. Zur Begründung führen sie an, dass folgende elementare Sachgründe außer Acht gelassen wurden.

  • Dass ein australischer Publizist außerhalb des US-Staatsgebietes für die von der Pressefreiheit geschützte Veröffentlichung von in öffentlichem Interesse stehendem Material nach einem US-Spionagegesetz aus dem Ersten Weltkrieg in 17 Anklagepunkten straffällig geworden sein soll, ist vollkommen absurd.
  • Selbst wenn nach US-Argumentation Assange ein Spion sein sollte, so hätte ein britisches Gericht keine Zustimmung zur Auslieferung erteilen dürfen. Spionage wird von der britischen Rechtsprechung seit 130 Jahren durchgehend als politische Straftat eingestuft. Und im Auslieferungsvertrag von 2003 zwischen England und den USA sind politische Straftaten von gegenseitiger Auslieferung ausdrücklich ausgeschlossen.
  • Der 18. Anklagepunkt (Hacking-Verschwörung mit Chelsea Manning zum gemeinschaftlichen Datendiebstahl) beruht maßgeblich auf der mittlerweile von ihm selbst als „gelogen" zugegebenen Lüge eines pädophilen Isländers, der dafür in Island Straffreiheit bekommen sollte.
  • Die US-Seite möchte den Australier Assange nach dem US-Strafgesetzbuch zur Rechenschaft ziehen, besteht aber gleichzeitig darauf, ihm die Schutzrechte aus dem 1. Verfassungszusatz zu verwehren, weil er kein US-Bürger ist. Wie war das noch mit der regelbasierten Ordnung?
  • Den Vorwurf, Taliban-Häuptling Osama bin Laden hätte sich auf dem stillen Örtchen an Wikileaks-Ausdrucken erfreut, ist genau so wenig stichhaltig wie die seit Jahren wiederholte Behauptung, durch Wikileaks seien irgendwelche Informanten gefährdet worden. Auch 14 Jahre nach Erstveröffentlichung des Materials hat die US-Regierung niemanden auftreiben oder auch nur namentlich benennen können, dem tatsächlich irgendein Schaden entstanden ist.
  • Selbst wenn irgendein Schaden entstanden wäre, hätte das öffentliche Interesse an den Veröffentlichungen das Schutzbedürfnis Einzelner „in titanischer Größenordnung" überstiegen – es ging nicht nur um die Aufdeckung von Folter, Verschleppung, Mord und kleineren und größeren Kriegsverbrechen, sondern „um ein reales Geschehen, das realen Menschen widerfuhr". Die Wikileaks-Veröffentlichungen waren geeignet, diese realen und anhaltenden Verbrechen zu beenden. Die Drohnen-Tötungen in Pakistan haben ebenso aufgehört wie die Helikopter-Massaker im Irak.
  • Erst nach Abschluss des ursprünglichen Verfahrens sind Informationen bekannt geworden wie etwa die vom damaligen CIA-Chef Pompeo in Auftrag gegebene und von US-Präsident Trump abgesegnete Planung zur Entführung und Ermordung von Julian Assange, als sich seinerzeit noch als politischer Flüchtling in der Ecuadorianischen Botschaft in London aufhielt. Das zeigt die besondere Lebensgefahr, die für Assange von den USA ausgeht.
  • Nach dem „Vault 7"-Leak von 2017 (Joshua Schulte, ex-CIA, wurde in diesem Zusammenhang gerade zu 40 Jahren Haft verurteilt) hatte Pompeo für Wikileaks die neue Feindkategorie des „nichtsstaatlichen feindlichen Geheimdienstes" erfunden. Wenn überhaupt, dann hat Wikileaks für die gesamte Menschheit spioniert.

Der erste Prozesstag am Dienstag gehörte den brillanten Assange-Anwälten Edward Fitzgerald und Mark Summers. Sie haben noch einmal dargelegt, was für eine alptraumhafte Idee es darstellt, einen australischen Publizisten, der auf seiner Plattform Wikileaks Dokumente zu US-Kriegsverbrechen -Folter, Verschleppung, Mord (an Kindern, Zivilisten, Journalisten)- veröffentlicht hat, an ein Land auszuliefern, das offizielle Pläne zu seiner Ermordung hat erstellen lassen.

Der zweite Tag gehörte den etwas schlichteren Anwälten der US-Seite. In teilweise unzusammenhängendem Vortrag wiederholten sie unsubstanziiert und mit angeborener Herablassung faktisch längst wiederlegte Vortragsteile aus der Bezirksgerichts-Verhandlung.

Dem Gericht ist in der aktuellen Anhörung für seine Entscheidung an keinen Zeitrahmen gebunden. Wenn es Assanges Antrag auf ein eigenes Berufungsverfahren stattgibt, dann können die obigen Punkte eingebracht werden. Wenn nicht, droht ihm tatsächlich die sofortige Auslieferung. Er könnte sich, wie von Stella Assange befürchtet, binnen Stunden in einem Flugzeug Richtung Virginia wiederfinden.

Unter Prozessbeobachtern kursiert die verhaltene Hoffnung, dass die Biden-Administration neben den laufenden Kontroversen um ihre Ukraine- und Israel-Politik, die ihr eine schwindende Unterstützung eingebracht hat, derzeit ein drittes politisches Schlachtfeld vermeiden möchte – jedenfalls bis zur US-Präsidentschaftswahl im November. Diesem Szenario würde es entsprechen, wenn der britische High Court Assanges Antrag nachkäme – in aller gebotenen Gemächlichkeit. Das würde für Assange wenigstens ein weiteres Jahr in britischer Haft bedeuten. Mit der Aussicht auf einen weiteren Prozess, dessen Ausgang natürlich wiederum völlig offen ist.

Die Presse hatte Schwierigkeiten, der Anhörung zu folgen. Das Hightech-Land Großbritannien konnte im kleinsten Saal seines höchsten Gerichts keine zweckmäßige Mikrophontechnik zur Verfügung stellen. Stattdessen wurden die rund zwei Dutzend angereisten Journalisten von Gerichtsdienern auf eine Galerie getrieben, von der aus sie einer Übertragung der Verhandlung auf Bildschirmen auf harten Kirchenbänken (ohne Tisch) folgen sollten. Die Köpfe von Richtern und Anwälten waren briefmarkengroß, der Ton wurde zeitweise gar nicht übertragen und blieb über weite Strecken völlig unverständlich. Das Gericht hatte zudem im Vorfeld angeordnet, dass die „öffentliche" Verhandlung, die wahrscheinlich entscheidenste für die Pressefreiheit weltweit, selbst online nur von Journalisten verfolgt werden durfte, die sich in England und Wales aufhalten.

Die Anhörung fand ohne Assange statt – für ihn hatte man einen mit massiven Eisenstangen bewehrten Käfig bereitgehalten. Sein Gesundheitszustand sei „heikel und verschlechtert sich zusehends", sagt sein Bruder Gebriel Shipton. Und seine Auslieferung an die USA würde er wohl nicht überleben, sagt Stella Assange. An beiden Prozesstagen rief eine große Menschenmenge im britischen Regen vor dem High Court „FREE, FREE, FREE ASSANGE!". Zeitgleich gab es Demonstrationen ein Barcelona, Paris, Berlin. Staatsführer der westlichen Welt waren zu beschäftigt, um sich zu diesem Fall zu äußern.

Am Ende dieses Prozess-Bandwurms wird sich zeigen, ob der Westen seinen moralischen Abstieg ins Mittelalter weiter fortsetzt. In diesem Verfahren geht es nur an der Oberfläche um Julian Assange. Es geht um Recht, Demokratie, Gesetz und Freiheit. Es geht um Regierungskriminalität und Kriegsverbrechen. Es geht um die Kriminalisierung von Journalismus, die Abschaffung der demokratischen Rechenschaftspflicht und die Zerschlagung bürgerlicher Freiheiten.

[Nach „Unfree Assange“]

Ergänzung
Julian Assange vor Auslieferung in die USA? So schlecht stehen seine Chancen
Julian Assange judge previously acted for MI6 (Richter von Julian Assange war zuvor für den MI6 tätig) [MI6: Britischer Geheimdienst]
Assange, Navalny, Magnitsky, Skripal, Lira: Political Arrests, Poisonings, and Deaths

Nachtrag
(24.3.24) Consortium News: „Die Anwälte von Julian Assange und Beamte des US-Justizministeriums führen derzeit Gespräche über einen möglichen Deal, der Assange als freien Mann aus dem Belmarsh-Gefängnis in London entlassen könnte, so ein Bericht des Wall Street Journal vom Mittwoch."

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