Europas Energie-Armageddon kommt aus Berlin und Brüssel, nicht aus Moskau

Am 22. August 2022 hatte der börsengehandelte Marktpreis für Erdgas in Europa mit 315 Euro pro MWh sein bisheriges Hoch erreicht. Das jüngste Tief stammt von Ende Mai, der aktuelle Preis liegt mit rund 49 Euro schon wieder fast doppelt so hoch.

Der Durchschnittspreis über die Zeitspanne zwischen 2010 und März 2021 kommt auf etwa 20 Euro pro MWh (Chartquelle). [Der Chart zeigt monatlich gemittelte Preise, stellt die Spitzen daher nicht dar; tägliche Preise gibt es z.B. hier.]

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Was ist da los? Die Scholz-Regierung wird nicht müde, den Bürgern zu erzählen, dass der Grund für die extreme Volatilität des Gaspreises Russlands Krieg in der Ukraine ist. Die Wahrheit sieht anders aus.

In der Vergangenheit wurden die meisten Gaspreise in langfristigen Verträgen für Pipelinelieferungen festgeschrieben. Der größte Lieferant, die russische Gazprom, lieferte im Rahmen langfristiger, an den Ölpreis gekoppelter Verträge Gas in die EU, insbesondere nach Deutschland.

Fast zwei Jahrzehnte lang arbeitete die EU-Kommission, unterstützt von Megabanken wie JP MorganChase und großen Hedgefonds daran, die Grundlagen für die heutige vollständige Deregulierung des Erdgasmarktes zu legen. Sie wurde als „Liberalisierung" des Erdgasmarktes in der Europäischen Union beworben. Statt langfristiger Verträge werden die Preise nun durch unregulierten Echtzeithandel auf dem freien Markt festgelegt.

Mit einer Änderung der US-Gesetze in 2016 wurde der Export von LNG aus der Schiefergasproduktion (Fracking-Gas) erlaubt. Die US-Gasproduzenten begannen in großem Umfang mit dem Bau von LNG-Exportterminals. Der Bau dieser Terminals dauert durchschnittlich drei bis fünf Jahre. Gleichzeitig begannen Polen, die Niederlande und andere EU-Länder mit dem Bau von LNG-Importterminals.

Jetzt ging es darum, diese gewaltigen Investitionen abzusichern und in sprudelnde Gewinne umzusetzen. Dazu gibt es ein historisches Vorbild:

Die anglo-amerikanischen Ölgiganten waren aus dem Zweiten Weltkrieg als weltweit führende Öllieferanten hervorgegangen. Diese „Seven Sisters" (Sieben Schwestern), wie sie damals genannt wurden, schufen ein globales Ölpreismonopol. Wie Henry Kissinger während der Ölschocks der 1970er Jahre bemerkte: „Kontrolliere das Öl und du kontrollierst ganze Nationen."

In den 1980er Jahren entwickelten die Wall Street-Banken unter der Führung von Goldman Sachs einen neuen Markt für „Papieröl", d.h. den Handel mit Termingeschäften und Derivaten auf künftige Öllieferungen. Es entstand ein Kasino für Spekulationsgewinne, kontrolliert von einer Handvoll großer Banken in New York und London.

Dieselben mächtigen Finanzinteressen arbeiteten seit Jahren an der Schaffung eines ähnlichen, von ihnen kontrollierten globalisierten „Papiergas"-Marktes für Termingeschäfte. Die Green-Deal-Agenda der EU zur „Dekarbonisierung" der Wirtschaft bis 2050, bei der Öl-, Gas- und Kohletreibstoffe abgeschafft werden sollen, stellte den idealen Hebel hierzu dar.

Um eine „einheitliche" Marktkontrolle zu schaffen, wurde die EU von den globalistischen Interessen gedrängt, Gazprom drakonische Regeländerungen aufzuerlegen, um den russischen Eigentümer verschiedener Gasverteilungsnetze in der EU zu zwingen, diese für konkurrierendes Gas zu öffnen. Die Großbanken und Energieinteressen, die die EU-Politik in Brüssel kontrollieren, haben nach und nach ein neues Preissystem geschaffen, das parallel zu den langfristigen, stabilen Preisen für russisches Pipeline-Gas existiert.

So erlauben seit 2019 die Energierichtlinien der Brüsseler EU-Kommission, dass der deregulierte Gashandel de facto die Preise für Erdgas in der EU festlegte, obwohl Russland immer noch die bei weitem größte Gasimportquelle war. In mehreren EU-Ländern wurde eine Reihe von virtuellen Handelsplätzen für den Handel mit Gas-Terminkontrakten eingerichtet.

So wurde die niederländische TTF (Title Transfer Facility) ein dominierender, im Besitz der niederländischen Regierung befindlicher Handelsplatz für EU-Gas, die so genannte EU-Gas-Benchmark. TTF ist eine virtuelle Plattform für den „Over-The-Counter"-Handel mit Gas-Terminkontrakten zwischen Banken und anderen Finanzinvestoren, ein de facto unregulierter außerbörslicher Handel. Auf deutscher Seite existiert jetzt das „Trading Hub Europe“ (THE).

Im Jahr 2021 waren nur 20% aller Erdgaseinfuhren in die EU LNG-Gas, dessen Preise größtenteils durch Termingeschäfte am TTF-Hub bestimmt wurden. Der größte Anteil der europäischen Gasimporte kam nach wie vor von der russischen Gazprom, die 2021 mehr als 40% der EU-Importe lieferte. Dieses Gas wurde über langfristige Pipelineverträge bezogen, deren Preis weit unter dem heutigen TTF-Spekulationspreis lag. Im Jahr 2021 zahlten die EU-Staaten schätzungsweise 30 Mrd. Dollar mehr für Erdgas, als wenn sie bei der ölindexierten Preisgestaltung von Gazprom geblieben wären.

Nur durch die Zerstörung des russischen Gasmarktes in der EU konnten Finanzinteressen und die Befürworter des Green Deal den LNG-Markt v.a. für US-Lieferungen weiter ausbauen. Mit Rückendeckung durch die EU für den neuen Gas-Großhandelsmarkt begannen Brüssel, Deutschland und die NATO systematisch damit, stabile, langfristige Gaspipelines in die EU zu schließen.

Russische Pipelines – Blockade, Abschaltung, Sprengung

Im September 2021 stellte Gazprom seine Unterwasser-Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland durch die Ostsee nach Norddeutschland fertig. Sie würde die Kapazität von Nord Stream 1 auf 110 Milliarden Kubikmeter jährlich verdoppeln und Gazprom unabhängig von Störungen der Gaslieferungen über seine Sojus-Pipeline durch die Ukraine machen.

Die EU-Kommission, angestachelt von der US-Administration, blockierte die Eröffnung der Pipeline, schließlich verhängte Bundeskanzler Scholz am 22. Februar Sanktionen gegen die Pipeline wegen der russischen Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Nord Stream 2 wurde nicht in Betrieb genommen, obwohl die Pipeline fertiggestellt ist.

Am 12. Mai 2022 schloss das NATO-kontrollierte Selensky-Regime in Kiew eine wichtige russische Pipeline durch Lugansk, die russisches Gas sowohl in die Ukraine als auch in die EU-Staaten leitete. Sie erklärte, diese bleibe geschlossen, bis Kiew die vollständige Kontrolle über sein Pipelinesystem erhalte, das durch die beiden Donbass-Republiken verläuft. Die Sojus-Leitung wurde 1980 in der Ära der Sowjetunion eröffnet und brachte Gas aus dem Orenburg-Gasfeld. Durch diesen Teil der ukrainischen Sojus-Leitung wurde ein Drittel des Gases, das über die Sojus-Leitung in die EU gelangt, abgeschnitten.

Danach folgte die russische Gaspipeline Jamal durch Weißrussland und Polen nach Deutschland. Im Dezember 2021, zwei Monate vor dem Ukraine-Konflikt, schloss die polnische Regierung den polnischen Teil der Pipeline und unterbrach damit die Gaslieferungen von Gazprom zu niedrigen Preisen sowohl nach Deutschland als auch nach Polen.

Stattdessen bezogen polnische Gasunternehmen im Gegenstromverfahren russisches Gas aus den Speichern deutscher Gasunternehmen über den polnisch-deutschen Abschnitt der Jamal-Pipeline. Die deutschen Gasunternehmen bekamen ihr russisches Gas über langfristige Verträge zu einem sehr niedrigen Vertragspreis und verkauften es mit großem Gewinn an Polen weiter.

Dieser Irrsinn wurde vom grünen Wirtschaftsminister Habeck und Bundeskanzler Scholz sowie den deutschen Medien bewusst heruntergespielt, obwohl er die deutschen Gaspreise in die Höhe trieb und die deutsche Gaskrise verschärfte.

Irrsinn auf beiden Seiten: Die polnische Regierung weigerte sich, ihren Gasvertrag mit Russland zu verlängern, und kauft stattdessen Gas auf dem freien Markt zu weitaus höheren Preisen ein. Infolgedessen fließt kein russisches Gas mehr über Jamal nach Deutschland.

Schließlich wurde die Gaslieferung über die Unterwasserpipeline Nord Stream 1 unterbrochen, weil eine von Siemens hergestellte Gasturbine repariert werden musste. Die Turbine wurde an eine spezielle Siemens-Einrichtung in Kanada geschickt, wo das antirussische Trudeau-Regime sie monatelang festhielt, bevor es sie schließlich auf Anfrage der deutschen Regierung freigab. Die deutsche Regierung weigerte sich jedoch, die Turbine an ihren russischen Eigentümer zu liefern. Stattdessen wurde sie an Siemens Deutschland geliefert. Dort befindet sie sich immer noch, die deutsche und die kanadische Regierung haben keine Sanktionsausnahme für die Übergabe an Russland erlassen. Und so wurden die Gaslieferungen von Gazprom über Nord Stream 1 auf 20% der normalen Menge reduziert.

Im Januar 2020 begann Gazprom, Gas aus seiner TurkStream-Pipeline durch die Türkei nach Bulgarien und Ungarn zu leiten. Im März 2022 kappte Bulgarien mit Unterstützung der NATO einseitig die Gaslieferungen aus TurkStream. Ungarns Viktor Orban hingegen sicherte sich die Fortsetzung der TurkStream-Gaslieferungen mit Russland. Infolgedessen hat Ungarn heute keine Energiekrise und importiert russisches Pipeline-Gas zu vertraglich sehr niedrigen Festpreisen.

Durch die systematische Sanktionierung oder Schließung von Gaslieferungen aus langfristigen, kostengünstigen Pipelines in die EU konnten die Gasspekulanten über die niederländische TTP jede Störung oder jeden Energieschock in der Welt nutzen, um die EU-Großhandelspreise für Gas in die gewünschte Richtung zu treiben. Und so kam es Mitte August 2022 zu dem eingangs erwähnten exorbitanten Anstieg der Gaspreise.

Am 26. September 2022 schließlich wurden die Nord Stream Pipelines gesprengt. Die amerikanische Reporterlegende Seymour Hersh schrieb dazu: „Die Biden-Administration hat die Pipelines in die Luft gejagt, aber die Aktion hatte wenig mit dem Gewinnen oder Beenden des Krieges in der Ukraine zu tun. Sie resultierte aus der Befürchtung im Weißen Haus, dass Deutschland wanken würde, den russischen Gashahn abzudrehen und dass Deutschland und dann die NATO aus wirtschaftlichen Gründen unter die Herrschaft Russlands und seiner umfangreichen und preiswerten natürlichen Ressourcen geraten würden. Und daraus resultierte die eigentliche Angst: dass Amerika seine langjährige Vormachtstellung in Westeuropa verlieren würde.“

Die vorsätzliche Energie- und Strompreissabotage wird noch absurder. Am 28. August 2022 deckte Bundesfinanzminister Lindner (FDP) auf, dass nach den undurchsichtigen Bestimmungen der komplexen EU-Strommarktreform die Erzeuger von Strom aus Sonnen- oder Windenergie automatisch den gleichen Preis für ihren Strom erhalten wie den des teuersten Energieträgers, dem Erdgas.

Lindner forderte eine „dringende" Änderung des deutschen Energierechts, um die verschiedenen Märkte zu entkoppeln. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck entgegnete: „Wir arbeiten mit Hochdruck an einem neuen Marktmodell", mahnte aber, dass die Regierung darauf achten müsse, nicht zu sehr einzugreifen: „Wir brauchen funktionierende Märkte und müssen gleichzeitig die richtigen Regeln setzen, damit die Positionen im Markt nicht missbraucht werden."

Gleichzeitig setzt Habeck alles daran, die dirigistische Grüne Agenda zu verwirklichen und auf Gas, Öl und Atomkraft, die derzeit einzigen zuverlässigen Energiequellen, zu verzichten. Was das wohl mit seinen „funktionierenden Märkten“ zu tun hat? Und er setzt die „richtigen Regeln" – richtig für wen?

Und so treibt der durch die Politik in Deutschland und Europa entfesselte Gaspreis den Strompreis, wodurch die Erzeuger der sogenannten „erneuerbaren“ Energien durch Sonne und Wind zu exorbitanten Gewinnen kommen. Die Vollkosten für ein KWh Strom aus Gaskraftwerken betragen 13,9 €Cent, von einem Solarpark kommen sie auf 7,0 €Cent, bei Dachsolar sind es 11,7 €Cent, Wind offshore bringt es auf 8,4 €Cent, Wind onshore schlägt mit 6,1 €Cent zu Buche. Zum Vergleich: Strom aus bestehenden AKWs kommt auf 3,0 €Cent, aus neu gebauten sind es 5,3 €Cent (CO2-Preis von 90€/tCO2, siehe hier!). Und was zahlen die Endkunden? Zur Jahresmitte 2023 zahlten Endkunden effektiv etwa 46 Cent pro Kilowattstunde. Im Jahr 2000 waren es noch rund 14 Cent.

Habeck wie auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben wiederholt erklärt, noch mehr Investitionen in aus industrieller Sicht unzuverlässige Wind- und Solarenergie seien die Antwort auf eine Gaspreiskrise, die sie mit ihrer Politik bewusst herbeigeführt haben. Die selbstmörderische Energiekrise in Europa ist in jeder Hinsicht „Made in Germany". Gemacht in Berlin und Brüssel, erdacht in den Chefetagen des internationalen Finanzkapitals.

Es liegt nicht daran, dass Politiker wie Scholz oder der grüne Wirtschaftsminister Habeck oder der Vizepräsident der EU-Kommission für grüne Energie, Frans Timmermans, dumm oder ahnungslos sind. Sie wissen, was sie tun und handeln nach einem Drehbuch, das andere geschrieben haben.

Wer die Terminmärkte kontrolliert, kann bei steigenden und fallenden Preisen verdienen und steuert letztlich auch die Verfügbarkeit der dort gehandelten Güter. Deshalb war es dem Finanzkapital so wichtig, den europäischen Gasmarkt zu „deregulieren". Die EU hat über ihre Mitwirkung bei diesem Vorhaben die wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA vorangetrieben – eine technologisch hoch stehende energieeffiziente Industriekonzentration hat sich selbst in eine miserable Wettbewerbsposition auf den Weltmärkten gebracht. Und über die absehbare Deindustrialisierung und gleichzeitige dauerhafte Inflation (getrieben u.a. über Energiepreise und „Greenflation") wird der Lebensstandard in Europa, v.a. in Deutschland, massiv demontiert.

[Unter Verwendung von Material aus dieser Quelle, andere sind im Text verlinkt]

Zum geopolitschen strategischen Hintergrund: „Die Pipeline des Herzlands"

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