Warum entkoppeln sich US-Aktien?

Die Diskrepanz zwischen dem Aufschwung an der Börse und der politischen Verfassung der USA ist bemerkenswert. Was ist der Grund? Eigentlich verursacht politische Zerrüttung doch Unsicherheit – und Unsicherheit mögen Finanzmärkte gar nicht, heißt es.

Vielleicht glauben die großen Akteure an den Finanzmärkten, dass der amerikanische Präsident nur begrenzten Einfluss auf die heimische Wirtschaft hat – zumindest auf kurze Sicht. Vielleicht glauben diese Akteure aber auch, dass künstliche Intelligenz alles herausreißt.

Dabei werden die langfristigen Folgen von politischen Entscheidungen wie etwa der Abkehr vom Freihandel übersehen, wie auch der Druck auf die Fed, den Fokus weniger auf die Inflation zu richten, sowie der Fortsetzung eines unhaltbaren Schuldenkurses.

Hinsichtlich der genannten Politikfelder sind die beiden großen Parteien nicht so weit voneinander entfernt. Was das Thema Einwanderung betrifft, so ist Bidens Politik der offenen Grenzen wirtschaftlich kontraproduktiv. Trumps Narzismus und die daraus folgende Unberechenbarkeit könnte Hochqualifizierte abschrecken.

Möglicherweise sehen die großem Anleger aber auch, dass die Wählerschaft in den USA jetzt so tief gespalten ist, dass kein Präsident mehr als ein paar Jahre lang beide Häuser des Kongresses kontrollieren kann. Und freuen sich: Ein politisches Patt ist den großen Akteuren an den Finanzmärkten genehm – es ist dann einfach weniger Störfeuer seitens der Politik zu erwarten.

Mit dem politischen Stillstand in Washington als Normalzustand ist es weniger wahrscheinlich, dass die großen Technologieunternehmen mit einer durchgreifenden Anti-Monopol-Regulierung konfrontiert werden. Und dann machen sie auch die dank KI-Boom auflaufenden Kursgewinne immer weniger angreifbar.

Biden hat zwar eine weitreichende Durchführungsverordnung erlassen, die darauf abzielt, die Risiken durch KI einzugrenzen. Doch die Bemühungen der Regierung, die Tech-Industrie zu zügeln, sind bisher ohne Glanz – und waren es immer schon, egal wer das Sagen hatte.

Ich denke, die Regierung bemüht sich ganz bewusst nicht ernsthaft darum, das von den großen Tech-Konzernen ausgehende Risiko zu begrenzen und sie wirklich an die Kandare zu nehmen. Das ist vergleichbar mit den in den Dodd-Frank-Act mündenden Bemühungen, die von der Finanzindustrie ausgehenden Risiken in den Griff zu bekommen. Das mit über 2300 Seiten unglaublich komplizierte Gesetzeswerk entstand nach der Finanzkrise, praktischerweise haben Vertreter der Finanzindustrie daran mitgeschrieben. Es hat nichts genutzt – und sollte es auch nicht.

Das Risiko bleibt – too big to fail. Die Dominanz der Finanzindustrie ist ungebrochen. Und es ist eine unheilige Allianz entstanden zwischen dieser und den großen Tech-Firmen. Unregulierte Social-Media-Plattformen und Informations-Echokammern dürften viele Probleme in den USA verschärfen und so zur politischen Spaltung beigetragen haben. Teile und herrsche!

Die neu entstehenden KI-Technologien könnten zwar eine Verbesserung unserer rechtlichen, ethischen, wirtschaftlichen und politischen Systeme bringen, aber in den falschen Händen (in denen sie sind) und ohne regulatorische Aufsicht werden sie für die breite Bevölkerung destruktiv wirken. Dabei dürften die von KI ausgehenden Risiken die mit den sozialen Medien verbundenen Gefahren noch übersteigen.

Derweil warnen die Propagandisten der Tech-Industrie davor, dass staatliche Regulierungen hinter der Innovation herlaufen und sich schwertun, Effizienz und Risiko auszubalancieren. Das mag so sein. Aber das Entscheidende ist immer, im Vorfeld zu verhindern, dass etwas so groß wird, dass man dann meint, es regulieren zu müssen. Wenn der Wettbewerb operativ funktionieren würde, kann und soll sich eine Regulierung auf die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen beschränken – die aber stringent durchsetzen.

Von einem solchen Zustand sind wir weit entfernt und so wuchern immer wieder dominante Player heran, die irgendwann unbeherrschbar werden und demokratische Prozesse aushebeln – und zu groß werden, um zu scheitern. Will sagen, die nicht nur markt-, sondern auch politisch beherrschend zu werden.

Der derzeitige Bull-Run an den Börsen wird zum Teil durch die Erwartung angeheizt, dass KI trotz der potenziellen „Freisetzung“ von Millionen von Arbeitnehmern, der Gefahr politischer Instabilität und der Verzerrung des öffentlichen Diskurses im Wesentlichen unreguliert bleiben wird. Die KI-Industrie ist dabei, genügend politische Macht anzuhäufen, um jeden Versuch einer Regulierung zu unterdrücken, vergleichbar mit den Banken vor der globalen Finanzkrise und mit den Social-Media-Plattformen heute.

Die Finanzmärkte gehen im Wesentlichen davon aus, dass KI-Unternehmen unabhängig vom Ausgang der Wahlen zur US-Präsidentschaft weiter mehr oder weniger ungehindert florieren werden. Die anderen kontroversen Politik-Felder sind letztlich so kontrovers nicht – dafür wird schon der Regierungsapparat sorgen, auch wenn Trump und Biden unterschiedliche Akzente setzen mögen. Im Vorfeld werden Unterschiede künstlich aufgebauscht, die große Richtung steht fest.

Also dürfte das KI-Pferd mit den üblichen Pausen und Einbrüchen weiter geritten werden. Und wenn eine Rezession in die Quere kommt (was ich für wahrscheinlich halte), dürften KI-Titel angesichts der aufgelaufenen Kursgewinne besonders unter die Räder kommen, nur um dann wieder umso kräftiger anzusteigen.

KI ist ein Mittel zur Steigerung der Produktivität, mit „Intelligenz“ hat KI trotzdem nichts gemein. Mindestens ebenso wichtig ist, dass KI als Aushängeschild bald an jedem Unternehmenstor hängen wird. Und wie wir das von einem guten Marketing kennen, fördert das eine zeitlang Umsatz und Gewinn.

Aber auch KI führt nicht am Grundwiderspruch des Kapitalismus vorbei, im Gegenteil. Letztlich landen durch die steigende Produktivität Arbeitskräfte auf der Straße – genau die, die all die hervorragenden Produkte kaufen sollen. Wovon?

Ich bin gespannt, wann der erste Ökonom vorrechnet, wie stark KI die Inflation dämpft. Was Trump im Falle seiner Wahl dazu bringen würde, die demnächst auslaufende Steuerreform zu verlängern. Biden würde das zum Anlass nehmen, um noch eine Schippe bei den unsäglichen Bidenomics drauf zu legen. Und beide werden die Fed bedrängen, der Inflation weniger Gewicht beizumessen (die sich ja dank KI in Luft auflöst…). Und beide werden nicht aufhören, weitere Schulden zu machen.

Der Krug geht so lang zum Brunnen, bis er bricht.

[Unter Verwendung von Material aus "What’s Behind the US Stock-Market Disconnect?"]

Nachtrag
Mehr als nur Chat GPT: Das sind Sam Altmans Pläne für ein gigantisches KI-Imperium

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