Europäische Gaskrise saugt die Welt aus

Planmässig wurde die Erdgaspipeline Nord Stream 1 am 11. Juli für zehn Tage stillgelegt, die jährlich wiederkehrenden Wartungsarbeiten stehen an. Bereits seit Mitte Juni wird der Erdgastransport durch die Pipeline auf 40% gedrosselt. Die russische Seite gibt dafür technische Gründe an. U.a. saß eine zur Wartung nach Kanada gebrachte Siemens-Turbine wegen Sanktionsbestimmungen dort fest. Diese ist aber jetzt frei gegeben worden.

Derzeit wird befürchtet, dass nach Ablauf der Wartung von Nord Stream 1 kein Gas mehr durch die Ostsee transportiert wird. Zur Begründung wird angegeben, dass auch die übrigen zwei Hauptrouten für russisches Erdgas nach Europa weniger bis gar nicht genutzt werden. Hierzu muss man aber wissen, dass die Jamal-Pipeline zurzeit hautsächlich in der Gegenrichtung betrieben wird, um nach Deutschland geliefertes Gas nach Polen weiter zu schieben. Die zweite Route kann wegen des Kriegs in der Ukraine nur eingeschränkt genutzt werden.

Würde Nord Stream 1 dauerhaft blockiert, würden einige europäische Ländern von der Versorgung mit russischem Gas weitgehend abgeschnitten. Dass bei der „Gaspolitik“ Russlands politische Gründe eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Alexei Miller, Chef des Staatskonzerns Gazprom, sagte vor kurzem: „Die Konturen einer neuen Wirtschaftsstruktur werden von Russland bestimmt. (…) Weil die Nachfrage nach Rohstoffen die Nachfrage nach Devisenreserven ersetzt.“

Die Angst geht um: Wenn Russland nicht mehr liefert, kommt es im Winter zu einem Desaster, es könnte Blackouts, Heisswasser-Rationierungen und Produktionsunterbrechungen geben. Der schlimmste Winter seit 1945, unkt ein westlicher Gashändler.

Im vergangenen Jahr wurden in Europa etwa 540 Milliarden Kubikmeter Erdgas verbraucht. Davon lieferte Russland rund ein Viertel, entsprechend dem langjährigen Durchschnitt. Dabei kamen in 2021 über 40% des gesamten deutschen Gasverbrauchs aus Russland. Fällt das weg, müssen andere Quellen her. Oder man darf sich nur noch an vier Stellen waschen, wie Wirtschaftsminister Harbeck bereits warnte…

Lieferungen aus Norwegen oder aus den Niederlanden steigern, auf Kohle oder Heizöl ausweichen – das sind kurzfristige, jedoch nicht ausreichende Maßnahmen. Was bleibt sind Importe von verflüssigtem Erdgas (LNG). In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind die europäischen LNG-Einfuhren um 50% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Mittlerweile importiert die EU mehr LNG als russisches Erdgas. Klar, dass die Preise für LNG von Rekord zu Rekord springen. Und Harbeck kann sich gar nicht tief genug vor einem Subalternen in Katar verbeugen…

Aktuell sind rund 70% aller verschiffbaren LNG-Volumen langfristig vertraglich gebunden. Bleiben 30%, die am Spotmarkt verfügbar sind. Das würde einen kompletten Lieferausfall seitens Russland ausgleichen können, aber Europa müsste dazu den Markt leer kaufen. Kurzfristig hilft aber auch das nicht, der Engpass liegt bei den Importterminals in der EU. In Spanien und Großbritannien gibt es zwar noch freie Kapazitäten, die Transportkapazitäten für Gas von dort in die übrige EU sind jedoch bereits ausgelastet.

In Europa sind mittlerweile mehr als 20 LNG-Projekte auf den Weg gebracht worden. Deren Gesamtvolumen würde, wenn fertig gestellt, einen großen Teil russischer Erdgas-Lieferungen kompensieren können. In Deutschland, dem grössten Erdgasimporteur in der EU, gibt es zurzeit kein LNG-Terminal. Die deutsche Regierung hat vier schwimmende LNG-Terminals gechartert, sie können schneller in Betrieb gehen als stationäre Anlagen. Zwei davon sollen zur Jahreswende, bzw. Anfang 2023 operativ werden. In der Gasbranche wird jedoch damit gerechnet, dass ein realistischer Zeitpunkt eher bei Mitte 2023 liegt.

Die Investitionsvolumen für LNG-Produktionsstätten und -Terminals sind sehr hoch. Daher wird üblicherweise mit dem Bau solcher Anlagen erst begonnen, wenn langfristige Lieferverträge ausgehandelt worden sind. Dann dauert es immer noch drei, vier Jahre bis die Anlagen in Betrieb gehen können. Die hohen Investitionskosten erfordern eine Betriebszeit von 20 Jahren und mehr. Mitte der 2040er Jahre ist aber der Punkt, an dem einige Länder eine Klimapolitik von netto null CO2 erreicht haben wollen. Zwar lässt die in den kommenden zwei, drei Jahren anhaltende Knappheit an Kapazitäten erwarten, dass die LNG-Preise hoch bleiben (oder noch weiter steigen). Aber wie es danach aussieht? Oder wenn es zu einer Rezession in Europa und anderswo kommt?

Angesichts der hohen LNG-Preise gibt es eine Flut neuer Ankündigungen von Investitionen in die LNG-Infrastruktur. Die Hoffnungen ruhen dabei auf den USA, die mittlerweile vor Australien und Katar zum grössten LNG-Exporteur (von "dreckigem" Fracking-Gas) avanciert sind. Eines der grössten Projekte ist die 29 Mrd. Dollar teure Erweiterung der LNG-Kapazitäten in Katar durch ein internationales Konsortium. Produktionsbeginn ist jedoch erst 2027.

Schwimmende LNG-Produktionseinrichtungen und –Terminals, die vorrübergehende Engpässe kompensieren könnten, sind ausgebucht. Vor eineinhalb Jahren lag die Tagesmiete für ein solches Terminal bei 40.000 Dollar, jetzt muss mehr als das sechsfache bezahlt werden. Zudem: Weltweit stehen insgesamt nur knapp 500 LNG-Tanker zur Verfügung, die Nachfrage aus anderen Regionen der Welt ist hoch.

In Asien droht die Versorgung mit Flüssiggas zu kollabieren, weil Europa bereit ist, für LNG Höchstpreise zu bezahlen. So musste in Pakistan bereits Strom für Haushalte und Unternehmen rationiert werden. Man steigt dort jetzt verstärkt auf die Verstromung von Erdöl oder Kohle um, Indien oder Bangladesh gehen denselben Weg. Je mehr Kohle verfeuert wird, je besser könnte LNG für Europa verfügbar sein.

Welche bizarren Konsequenzen die Lage hat, zeigt sich auch daran, dass Pakistan bei einer Ausschreibung über eine Milliarde Dollar LNG zuletzt kein einziges Angebot erhalten hat. Bei früheren Ausschreibungen wurde lediglich ein Angebot abgegeben – zu einem Preis von 40 Dollar je MMBtu (million British thermal units). Bei langfristigen Lieferverträgen zahlt Pakistan 12 Dollar pro MMBtu. 40 Dollar übersteigt die finanziellen Möglichkeiten des Landes, Islamabad hat das Angebot daher abgelehnt.

Sogar vertraglich fest zugesicherte Lieferungen fallen aus. LNG-Lieferanten können inzwischen in Europa so hohe Preise erzielen, dass es sich für sie lohnt, Pakistan zugesicherte Lieferungen nach Europa umzuleiten. Dabei wird auch die fällige Vertragsstrafe in Höhe von 30% des Liefervolumens in Kauf genommen.

Zahlreiche Länder Südostasiens, Afrikas und Lateinamerikas befinden sich in einer ähnlichen Lage, sie können die erheblich gestiegenen LNG-Preise nicht bezahlen. „Die europäische Gaskrise saugt die Welt bis aufs Blut aus“, erklärt ein Experte des auf Energie und Rohstoffe spezialisierten Beratungsunternehmens Wood Mackenzie. Demnach haben die europäischen Staaten ihren LNG-Import vom Jahresanfang bis zum 19. Juni um rund 50% gegenüber dem Vorjahreszeitraum gesteigert.

Wenn LNG für Europa erst irgendwann in 2023 die Möglichkeit eröffnet, von Erdgas-Lieferungen aus Russland unabhängiger zu werden, kann der kommende Winter hart werden. Die deutschen Gasspeicher sich aktuell zu gut 60% gefüllt, was in etwa dem normalen Verlauf über das Jahr entspricht. Aber ob das Soll von 90% per November erfüllt werden kann, steht dahin. Ohnehin liegt die Kapazität der deutschen Gasspeicher bei nur rund einem Viertel des jährlichen Erdgasverbrauchs, also ist man auf ständige Lieferungen angewiesen.

Bei einem völligen Stopp der russischen Pipeline-Importe ist es nach der Einschätzung der Brüsseler Denkfabrik Bruegel erforderlich, in der EU die Nachfrage in den nächsten zehn Monaten um bis zu 15% gegenüber dem Durchschnittsbedarf der Jahre 2019 bis 2021 zu reduzieren. Damit richtet sich der Fokus auf das Ende der Wartungsarbeiten von Nord Stream 1 – wird Russland am 21. Juli die Erdgaslieferungen wieder aufnehmen?

Vier Punkte werden an der Gasproblematik überdeutlich: Der überhastete Ausstieg aus der Nutzung von Erdgas wird zum Bumerang für das Klima. Es führt dazu, dass auf noch schädlichere Verfahren umgestellt wird, sei es die LNG-Technologie oder der Rückfall auf die Verstromung von Kohle und Öl.
Der zweite ist, dass der Ressourcenverbrauch deutlich steigt (siehe z.B. hier!) – mit eben auch Folgen für das Klima: Die Nutzung vorhandener intakter Infrastrukturen (etwa Pipelines und alles, was damit zusammenhängt) wird vorzeitig eingestellt, neue Technologien werden mit zusätzlichem Aufwand aus dem Boden gestampft.
Drittens führt sich das (für den „Klimawandel“ vorgeschobene) moralisch-ethische Argument ad absurdum, mit Ländern, die völkerrechtswidrige Kriege führen, keine Geschäfte machen zu wollen. Ob man sich beim Gasgeschäft mit Russland oder mit den USA oder mit Katar oder mit Saudi-Arabien ins Bett legt, macht da wenig Unterschied.
Und viertens führt eine solche Politik (ziemlich sicher) in eine Rezession. Und Rezession bedeutet auch immer, dass Ressourcen nicht ausreichend genutzt werden. Und jede suboptimale Nutzung von Ressourcen hat negative Folgen für das Klima.

[Unter Verwendung von Material aus „Nach uns die Sintflut“ und „Hoffnungsträger LNG – kann Flüssigerdgas in diesem Winter russische Lieferungen nach Europa ersetzen?“]

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