Dieser Tage hat das Wort von der Verschwörungstheorie Hochkonjunktur. Es wird von großen Medien und der etablierten Politik gerne gebraucht, um den Inhalt einer gesellschaftspolitischen Aussage abzuqualifizieren. Eine Auseinandersetzung damit erübrigt sich dann – Verschwörung, was für ein Blödsinn. Für schwierigere Fälle gibt es den Faktencheck der ARD, correctiv und neuerdings sogar den factcheck bei Twitter (dem US-Präsident Trump zuletzt zum Opfer fiel).
Und schon fragen sich Psychologen: Wie kann man betroffenen Verschwörungstheoretikern helfen? Am Anfang könnte ja noch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Mythen helfen, heißt es. Auslachen sollte man die Betroffenen nicht, auch nicht mit Wut reagieren. Angehörige müssten Gedud haben. Aber manchmal kommt man auf der Ebene des Verstandes nicht mehr weiter. Der Glaube an Verschwörungserzählungen könne nämlich auch ein Mittel sein, um Ängste, Einsamkeit oder Unsicherheit zu bewältigen. Dann müsse man den Betroffenen ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Und Verrückte müssen professionell behandelt, vielleicht sogar eingesperrt werden (zu ihrem eigenen Schutz).
Scheint schlecht bestellt um Verschwörungstheoretiker. Wer will so etwas schon sein? Ich nicht und Sie wahrscheinlich auch nicht…
Was ist eine Verschwörung eigentlich? Nach Wikipedia ist das eine geheime Zusammenarbeit einer meist kleinen Gruppe von Personen zum Nachteil Dritter. Als Verschwörungstheorie wird demzufolge der Versuch bezeichnet, einen Zustand, ein Ereignis oder eine Entwicklung durch eine Verschwörung zu erklären.
Gerne wird auf Tricks von Verschwörungstheoretikern verwiesen. Aus der Tatsache, dass jemand von einem Umstand profitiert, wird messerscharf geschlossen, dass dieser auch den Umstand herbeigeführt hat, heißt es. Das sei so, als wenn der Bauer den Regen macht, von dem er dann profitiert. Gerne würden auch sich synchron entwickelnde Zeitreihen als Beleg für eine Ursache-Wirkungs-Beziehung genommen. Ein Kennzeichen von Verschwörungstheoretikern sei demnach auch, dass sie Zufälle als Beleg für Behauptungen nehmen – „das kann doch nicht alles Zufall sein“.
Ich finde, es ist ein Qualitätsmerkmal einer Theoriebildung, wenn es gelingt, eine verifizierte, logisch-erklärende Ordnung in ein anfänglich noch als eine Anhäufung oder eine Serie von Zufällen angesehenes „Chaos“ zu bringen. Das hat aus meiner Sicht viel mit einem gelungenen wissenschaftlichem Erkenntnisprozess zu tun.
Und was das obige Beispiel mit dem Bauer angeht: Klar, Regen kann er nicht. Aber wenn er die Scheune des Nachbarn ansteckt, kann er vom etwa steigenden Getreidepreis profitieren. So kann er sich seinen Vorteil selbst bestellen (wenn er nicht erwischt wird).
Das ist genau der Punkt. Die Frage, was wem nutzt, macht bei naturwissenschaftlichen Analysen zu Ursache und Wirkung keinen Sinn. Bei gesellschaftlichen Vorgängen sieht das aber völlig anders aus. Hier ist ein zentraler Punkt, dass es divergente Interessen und unterschiedliche Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung gibt. Und dann macht die Frage sehr wohl Sinn, was nutzt wem. Genau die wird aber gerne ausgeblendet, in den großen Medien ebenso wie in der soziologischen und wirtschaftlichen Forschung.
Ja, es gibt in jeder Staatsform Ungleiche, es gibt Gruppen, denen es aufgrund der Verfügungsmacht über Produktionsmittel und Kapital möglich ist, die Geschicke der Gesellschaft zu lenken. So lange alles seinen normalen Gang geht, bleibt dieser Einfluss im Hintergrund. Wer wird dann schon so blöd sein und seine Möglichkeiten offen heraushängen lassen. Zumal sich die Masse der Bevölkerung in einer demokratischen Verfassung hinsichtlich der bestehenden Verhältnisse per Saldo normalerweise neutral verhält und damit auch lenken lässt (siehe z.B. hier!).
Die Finanzkrise ist wahrscheinlich das Schlüsselereignis, das die Abkehr von dieser Normalität einleitete. Überbordende Spekulation im Hypothekenbereich hatte zu schweren Verwerfungen im Finanzsystem geführt. Zentralbanken sprangen mit „frischem Geld“ ein, Staaten legten Rettungspakete und Konjunkturprogramme auf Pump auf. Weltweit wurden mehr als zehn Bill. Dollar eingesetzt, um einen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern, den ein kleiner Teil der Gesellschaft verursacht hätte.
Die Finanzkrise hat vielen gezeigt, dass es den jahrezehntelangen gesellschaftlichen Konsens nicht (mehr) gibt, der gerechte Staat sorge für alle gleichermaßen. Das war der Punkt, an dem Teile der Bevölkerung die Rolle der schweigenden Duldung der bestehenden Verhältnisse aufzugeben begannen. Verunsichert, enttäuscht, entwurzelt, deklassiert – daraus entsteht Ablehnung gegen die früher respektierten etablierten politischen Führer. Und Zweifel daran, dass die Globalisierung zum Wohle aller ist.
Eine Situation nachhaltiger Verunsicherung macht empfänglich für neue Überzeugungen. Insofern haben die vorne zitierten Psychologen recht. Das massenhafte Aufkommen von Verschwörungstheorien (nicht erst seit "Corona") ist genau der Beleg dafür, dass der gesellschaftliche Konsens von früher wankt. Das kann den Mächtigen in der Gesellschaft nicht gleichgültig sein.
Die Macht derjenigen, die die Finanzkrise verursacht haben, ist weiter angewachsen, die weltweite Verschuldung deutlich angestiegen. Es gab spätestens im September 2019 Anzeichen, dass sich so etwas wie die Finanzkrise auf größerer Stufenleiter wiederholen könnte. Der IWF warnt seit einigen Jahren, die Entwicklung könne so nicht weitergehen – es war von einem globalen Reset die Rede, auch wurde eine weltweite Vermögensabgabe gefordert, um Löcher zu stopfen.
Wenn jemand mehr Macht hat als andere, so hat er auch mehr Möglichkeiten, bestimmte erwartete oder unerwartete Ereignisse für sich zu nutzen, z.B. „Corona“. Gutes Beispiel auch: „Was war 1907“. Die Geschichte lehrt zudem, dass die Gruppen der Mächtigen in einem Staatswesen an ihrer Macht festhalten und sie (mit allen Mitteln) verteidigen. Sie gehen dazu im übertragenen, wie im wörtlichen Sinn über Leichen – siehe die totalitären Regimes, die kamen und gingen (z.B. auch die Nazi-Herrschaft!). Hat sich daran 2020 was geändert?
Auch 2020 ist eine Theorie, die zu erklären versucht, wer wodurch welchen Nutzen hat (siehe z.B. hier oder hier!), nicht automatisch eine Verschwörungstheorie.
„Zum typischen Herrscher der Welt wurde das Finanzkapital, das besonders beweglich und elastisch, national wie international besonders losgelöst ist, das sich besonders leicht konzentriert und bereits besonders stark konzentriert hat, so dass buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten.“
Das Zitat ist mehr als hundert Jahre alt, könnte aber auch von 1975 oder von heute sein.
Und wissen Sie was? In den allermeisten Fällen ist es gar nicht erforderlich, dass sich eine kleine Gruppe von Verschwörern in einem Hinterzimmer trifft (heutzutage natürlich mit Mundschutz). Wenn genügend Leute auf der Welt an den Hebeln der etablierten politischen Macht ähnlich denken, werden alle ähnlich handeln. Automatisch, ganz ohne Konspiration.
Nachtrag:
Annette Heinisch schreibt in "In der Krise zeigt sich der Charakter": "Dass in solchen Zeiten Verschwörungstheorien Hochkonjunktur haben, wundert nicht. Die Bürger suchen verzweifelt nach einer irgendwie vernünftigen Erklärung, warum der Wahnsinn galoppiert, unser Land so gezielt und konsequent kaputt gemacht werden soll. Eine Verschwörung ist dabei noch die tröstlichste Erklärung. Die anderen Optionen, dass unsere Politiker entweder alle dermaßen strunzdumm oder aber böswillig–sadistisch veranlagt sind, wären noch viel beunruhigender."
(6.2.22) Lesenswert: "Gedanken zu Verschwörungstheorien in der Geschichte"
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