Ist der gesunde Menschenverstand verloren, schlägt ihm die totalitäre Propaganda ins Gesicht

Die folgenden Zeilen könnten einer aktuellen Analyse über die Hintergründe und Taktiken heutiger rechtspopulistischer Bewegungen entstammen. In vielem wird man die USA und Trump wiederfinden. Sie wurden jedoch in den frühen 1950er Jahren von Hannah Arendt niedergeschrieben. Nachfolgend eine Zusammenfassung von mir.

Demokratische Staaten funktionieren zwar im Sinne des Mehrheitsprinzips, werden aber normalerweise von einer Minderheit dirigiert. Eine demokratische Verfassung ist auf die schweigende Duldung der politisch inaktiven Elemente in der Bevölkerung angewiesen. Solche schweigenden Mehrheiten sind amorph, sie existieren in jedem Lande und zu jeder Zeit, sie bleiben aber in normalen Zeiten politisch neutral und inaktiv.

Dieser Zustand wird instabil, wenn diese Art Masse enttäuscht, entwurzelt oder deklassiert wird. Daraus entsteht Ablehnung und Hass gegen die früher geachteten etablierten politischen Führer, denen man nun unterstellt, entweder aus Dummheit oder aus betrügerischer Gemeinheit zu handeln.

Der Erfolg totalitärer Bewegungen bedeutet das Ende zweier „demokratischer“ Illusionen. Die erste ist, dass alle Bürger an öffentlichen Angelegenheiten wohlwollend interessiert sind und mit irgendeiner etablierten Partei sympathisieren, selbst wenn sie sie nicht wählen. Die zweite Illusion ist, dass die politisch neutralen und indifferenten Massen ohne kollektives politisches Gewicht, d.h. per Saldo neutral sind.

Die Massen werden mit jedem neuen Unglücksschlag leichtgläubiger, sie fokussieren mehr und mehr die Fragen, die nicht öffentlich diskutiert werden, weil sie –vielleicht entstellt- irgendeinen wunden Punkt berühren. Die totalitäre Propaganda stellt wiederum genau das ins Zentrum ihrer Agitation, was die öffentliche Meinung und die Propaganda der Parteien mit Schweigen übergeht.

Aus diesen wunden, mit Schweigen zugedeckten Punkten zieht die totalitäre Propaganda wiederum jenes Minimum an Wahrheit und realer Erfahrung, was nötig ist, um die Brücke zu schlagen von der Realität in die Fiktion. Diese Elemente erfahrbarer Realität werden sodann isoliert, verallgemeinert oder sonstwie aus dem Zusammenhang gerissen. Damit entziehen sie sich überprüfbarer Erfahrung und werden schließlich in ihr Extrem übertrieben. Diese Fiktion lässt zugleich eine „Konsequenz“ und „Klarheit“ entstehen, die brillanter und schlüssiger zu sein scheint als die raue Wirklichkeit. (Anm.: Und Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urstände)

Die totalitären Bewegungen beschwören eine Schein- und Lügenwelt herauf, in der es sich die entwurzelten Massen erst einmal einrichten können. Ihnen bleiben so jene ständigen Erschütterungen erspart, die das reale Leben mit sich bringt.

Und das „…nicht, weil sie dumm oder schlecht sind, sondern weil im allgemeinen Zusammenbruch des Chaos diese Flucht in die Fiktion ihnen immerhin noch ein Minimum von Selbstachtung und Menschenwürde zu garantieren scheint.“ Die Revolte der Massen gegen den gesunden Menschenverstands ist Ergebnis einer Entwicklung, durch die sie ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben. Diese hat auch ihre Sphäre sozialer Beziehungen atomisiert, die der gesunde Menschenverstand braucht, um funktionieren zu können. „Nur wo der gesunde Menschenverstand seinen Sinn verloren hat, kann ihm die totalitäre Propaganda ungestraft ins Gesicht schlagen,“ schreibt Arendt.

Mit der Auflösung stabiler, sozialer Gemeinschaften verschwinden auch die Transmissionsriemen, "die individuelle Interessen in Gruppen- und Kollektivinteressen transformieren.“ Erst so wird der Massenmensch zu jener fanatischen, bis zum Opfertod bereiten Ergebenheit fähig, die nichts mehr mit der Loyalität normaler Parteigänger zu tun hat.

Die Massenpropaganda setzt ein Publikum voraus, dass jederzeit bereit ist, alles leichtgläubig hinzunehmen. Es verübelt es auch nicht, wenn sich das als Betrug herausstellt, weil es entweder ohnehin jede Aussage für eine Lüge hält oder im nachhinein zynisch behaupten kann, die Lügen längst durchschaut zu haben. Dann können sich totalitäre Führer sogar damit brüsten, wie souverän sie andere Leute an der Nase herumführen können.

Die Mitgliedschaft der totalitären Bewegungen besteht aus Leuten, die zuvor auf keiner parteipolitischen Bühne gestanden haben. Das erleichtert die Einführung neuer Methoden politischer Propaganda und ermöglicht auch das Totschweigen der Argumente der politischen Gegner. Diese Bewegungen rekrutieren ihre Mitgliedschaft außerhalb des Parteiensystems. Dadurch müssen sie sich um gegnerische Argumente wenig kümmern. Sie brauchen nicht einmal zu überzeugen, wenn Überzeugung bedeutet, dass der Überzeugte vorher eine andere Meinung gehabt hat.

Die Lüge dient auch innerhalb von totalitären Bewegungen als organisatorisches Mittel. Eine fiktive Welt kann nur durch (kurzbeinige) Lügen etabliert werden, gesichert wird sie durch ein kohärentes Truggewebe, dass in die Organisation selbst eingebaut wird. Es entsteht eine für jede Hierachieebene in der Bewegung typische Mischung aus Leichtgläubigkeit und Zynismus.

Wenn Menschen sich in einer ständig wechselnden und für sie immer unverständlicheren Welt darauf eingerichtet haben, jederzeit alles und gar nichts zu glauben, macht sich die Überzeugung breit, dass alles möglich ist und nichts wahr. Das führt zu einer merkwürdigen[1] Mischung aus Leichtgläubigkeit und Zynismus auch in den von totalitären Organisationen erfassten Massenbewegungen, die diese insgesamt stabilisiert, weil sie sie gegen sachliche Argumente feit.

Hannah Arendt wurde 1906 im heutigen Hannover geboren, sie starb 1975 in New York. Das politische Hauptwerk der Philosophin und Schriftstellerin „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschien Anfang der 1950er Jahre (Piper Verlag 1991). Die obige Zusammenfassung ihrer Ideen basiert im wesentlichen auf einem fiktivem Interview, das hier erschienen ist.

Anmerkung:
Hierzu passt auch "Techniken der Massenmedien".

Nachtrag:
Siehe auch sehr ausführlich zu Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ hier, sowie weitere Artikel zum gleichen Thema auf diesem Blog!


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Fußnoten:

  1. …, weil Leichtgläubigkeit eher als Zeichen „ungebildeter“ Menschen gilt, während Zynismus eher das Laster souveräner und raffinierter Geister ist [↩]
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