Strukturreformen – aber welche?

„Hidden Champion“ – dieser Begriff wurde vor Jahren von dem Unternehmensberater Hermann Simon geprägt. Er bezieht sich auf die Innovationskraft des deutschen Mittelstands, und hier insbesondere auf Unternehmen mit weniger als fünf Mrd. Euro Umsatz, die in ihrer Branche von der Öffentlichkeit kaum bemerkt Weltmarktführer sind. Diese „Hidden Champions“ seien die eigentlichen Garanten des deutschen Exporterfolgs, sagte Simon auf dem „Munich Economic Summit“.

Diese Firmen investieren doppelt so viel in Forschung und Entwicklung wie große Unternehmen und halten pro Mitarbeiter fünfmal so viele Patente. Für eine solch effektive Innovatoren-Rolle seien starke, vollständig ihrer Aufgabe verschriebene Unternehmer-Persönlichkeiten erforderlich. Sie beginnen meist relativ jung und bleiben länger im Amt blieben als in großen Konzernen (in den USA ist die Verweilzeit eines Vorstandsvorsitzenden mittlerweile auf unter sieben Jahre abgesunken). Diese Unternehmer sorgen für die Weiterbildung ihrer Belegschaft und für deren Identifizierung mit der eigenen Firma. Wegen der relativ geringen Fluktuation bleibt das Know-how im Unternehmen.

Die Europäische Union hatte sich auf ihrem Gipfel in Lissabon im Jahr 2000 vorgenommen, innerhalb einer Dekade der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden, erinnert Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts, auf dem „Munich Economic Summit“. Daraus wurde nichts. Mit den seit damals kumulierten Wachstumsraten liegt Europa im internationalen Vergleich weit abgeschlagen. Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Europas hänge auch damit zusammen, dass die Südländer den Preis für die Inflationierung der vergangenen zwei Dekaden zahlen müssen, sagt Sinn.

Michael Schaefer, Vorstandsvorsitzender der BMW Stiftung Herbert Quandt, sieht in seiner Rede auf dem „Munich Economic Summit“ die Schwäche Europas nicht nur in seiner mangelnden Wettbewerbsfähigkeit begründet. Die EU sei gerade sehr mit sich selbst, der Euro-Krise und Strukturreformen beschäftigt, sowie damit, das Machtvakuum auszufüllen, das sich vor dem Hintergrund politischer Instabilitäten rund um Europa auftut. Es sei jedoch für Europa unabdingbar, die Stabilität der eigenen Absatzmärkte zu sichern und so den Wohlstand der eigenen Völker zu erhalten.

„Das langfristige Wachstum von Volkswirtschaften hängt direkt ab von den Kompetenzen der Menschen – dem ‚Wissenskapital‘ der Nationen.“ Das ist die Quintessenz eines neuen Buches von Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik, und ifo-Forschungsprofessor Eric Hanushek von der Stanford University. „The Knowledge Capital of Nations” fasst die Erkenntnisse aus zehn Jahren gemeinsamer Forschung zusammen.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in Lateinamerika seit 1960 jährlich um gut anderthalb Prozentpunkte langsamer gewachsen als im Rest der Welt, in Ostasien hingegen um rund zweieinhalb Prozentpunkte schneller. Solche Wachstumsunterschiede kumulieren über lange Zeiträume zu gewaltigen Unterschieden im Wohlstand. So sind die Menschen in Ostasien heute mehr als siebenmal so reich wie ihre Großeltern, die Menschen in Lateinamerika hingegen weniger als zweieinhalbmal, sagt Wößmann.

Der Wohlstand der Nationen hängt von den unterschiedlichen Kompetenzen ab – bessere Kompetenzen führen zu höherem Wirtschaftswachstum. Das gilt für entwickelte Länder genauso wie für Entwicklungsländer. Schon relativ bescheidene Verbesserungen in den Kompetenzen der Bevölkerung können das Mehrfache des aktuellen Bruttoinlandsprodukts eines Landes wert sein.

Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik muss die Bildung der Bevölkerung in den Blick nehmen. Die heutige Wirtschaft ist global ausgerichtet und in ständigem Wandel begriffen. Um dabei nicht abgehängt zu werden, muss es dem Bildungssystem und der Gesellschaft insgesamt gelingen, die nachwachsende Generation mit hohen Kompetenzen auszustatten. Dabei käme es nicht in erster Linie auf höhere Bildungsausgaben an, sondern auf das Bewusstsein für Bildungsergebnisse. Dazu bedarf es erstklassiger Lehrkräfte, einheitlicher Leistungsprüfungen, mehr Freiheit für die Schulen und guter frühkindlicher Bildung für alle Kinder, sagt Wößmann.

Bildung ist wesentlicher Teil der sozialen Infrastruktur einer Volkswirtschaft. Hier besteht gewaltiger Nachholbedarf. Das gilt auch für die technische Infrastruktur, die u.a. Verkehrswege, Energieversorgung und Kommunikation umfasst. Der Stellenwert des materiellen und immateriellen Unterbaus ist umso größer, je höher die gesellschaftliche Arbeitsteilung entwickelt ist.

Im Zuge der zunehmenden Ausrichtung der modernen Wirtschaftssysteme auf die Belange der Finanzindustrie stehen immer weniger Finanzmittel für die Infrastruktur zur Verfügung. Das wird besonders deutlich nach 2008, als die insbesondere die industrialisierten Länder enorme Summen aufgewendet haben, um als systemrelevant angesehene Finanzinstitute zu retten. Beschleunigt hatte sich diese Entwicklung schon gegen Ende der 1990er Jahre, als die Finanzsysteme dereguliert wurden. Aber die ersten Ansätze für diese Entwicklung liegen viel weiter zurück. Die wachsende wirtschaftliche (und damit auch politische) Bedeutung des Finanzsektors mag folgendes verdeutlichen: Seit 1970, mit dem Ende des Bretton Woods Systems, hat sich der Anteil der Nachsteuer-Gewinne der Finanzunternehmen am BIP um fast 190% vergrößert, der der Nicht-Finanz-Unternehmen stieg jedoch nur um 41%.

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Die technische Infrastruktur in den USA ist mittlerweile so marode, dass der Ecomist kürzlich schrieb, der Zustand der Straßen, Schienennetze, Brücken und Flughäfen sei Beleg genug dafür, dass das Land im Begriff ist, seine Position als Wirtschafts-Supermacht zu verlieren. Überraschend sei das nicht, heißt es weiter. Der Anteil der öffentlichen Bauinvestitionen am BIP sei mittlerweile auf dem niedrigsten Stand der zurückliegenden mehr als zwei Dekaden. Die USA würden nicht mehr in ihre Zukunft investieren. Dabei hätten die niedrigen Zinsen die Finanzierungskosten für solche Infrastruktur-Projekte gesenkt. Eine bessere Infrastruktur wiederum sei Grundlage dafür, dass die Produktivität neuen Schub bekommt. Beobachter wie Paul McCulley sind da optimistisch, sie glauben, dass auf mittlere Sicht die öffentlichen Investitionen anziehen werden, finanziert durch frisches Zentralbankgeld.

Der Verlauf der öffentlichen Bauausgaben in Deutschland zeigt ein ähnliches Bild, erst recht, wenn man man sie ins Verhältnis zum BIP setzt.

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Über die Wachstumsschwäche der entwickelten Länder ist viel geschrieben worden. Demographische Faktoren spielen ohne Zweifel eine wichtige Rolle – siehe hier und hier. Gerade in einer solchen Situation wären aber verstärkte Investitionen in die technische und soziale Infrastruktur erforderlich.

Die Staaten haben ihre Finanzierungskraft mehr als ausgeschöpft, um Banken zu retten, die Zentralbanken haben im Interesse der Finanzindustrie mit ihrer Geldflut die Asset-Preise hoch getrieben. In der Realwirtschaft kommt von all diesen Mitteln kaum etwas an – und wenn, dann besteht die Gefahr, dass es in unrentablen Projekten verschwindet, weil es durch die ordnungspolitisch widersinnige Manipulations-Politik niedrigster bis negativer Zinsen fehlgeleitet wird.

Gefragt sind strukturelle Reformen – fürwahr. Infrastruktur-Investitionen sozialer und technischer Art sind nötig. Die besondere Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen ist nötig. Alle Erfahrung zeigt, dass nur der unternehmerische Mittelstand Träger wirklicher Innovationen ist, die wiederum die Grundlage für produktives Wirtschaften sind.
Aber all das wird letztlich kaum Früchte tragen, wenn die Bevorzugung der Finanzindustrie bestehen bleibt und das Geldsystem, das den Banken ermöglicht, nahezu willkürlich Geld zu schöpfen, nicht „reformiert“ wird. Das Buch „Die neue Ordnung des Geldes – warum wir eine Geldreform brauchen“ von Thomas Mayer gibt dazu wichtige Anregungen. Diese Strukturreform brauchen wir am allernötigsten.

[Unter Verwendung von Pressemitteilungen des ifo-Instituts in Zusammenhang mit dem „Munich Economic Summit“]

Nachtrag:
(27.5.15) Vor Pfingsten sprach sich EZB-Chef Draghi auf einer Konferenz in Portugal für Strukturreformen aus, wobei er sicher nicht die oben angesprochenen Reformen des Geldsystems meinte. Er beklagte das niedrige Potenzialwachstum in der Eurozone, das aus drei Gründen problematisch ist. Erstens werde die in vielen Ländern der Eurozone extrem hohe Arbeitslosigkeit ohne solche Reformen dauerhaft bei über zehn Prozent bleiben. Zweitens sei die Verschuldung der öffentlichen und der privaten Sektoren sehr hoch, die Schulden ließen sich ohne höheres Wachstum nicht abbauen. Drittens bleiben bei einer geringen Wachstumsrate auch die Zinsen niedrig, wodurch die Geldpolitik schneller an ihre in der Nähe eines Zinses von Null liegenden Grenzen stößt. Und prägte den schönen Satz: „Geldpolitik kann die Wirtschaft zurück zu ihrem Potential bringen. Strukturelle Reformen können das Potential erhöhen."
Womit der italienische Geld-Zampano mehr oder weniger deutlich sagte, dass die gegenwärtige Geldpolitik mit ihren Zinsen nahe oder sogar unter Null nur wenig bis nichts ausrichten kann.
Darüber hinaus kann man in den von ihm angesprochenen Punkten nicht nur durch höheres Wachstum zu behebende Probleme, sondern auch Gründe für eben dieses niedrige Wachstum sehen. Wenn eine Konsequenz seiner Aussagen ist, solche Strukturreformen mittels stärkerer Verschuldung durchzuführen, aber gerade höhere Schuldenlast wachstumsdämpfend wirkt, dann funktioniert das genausowenig wie bei Münchhausen, der vorgab, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

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