Amartya Sen schreibt heute im Guardian (h/t Eurointelligence) unter der Überschrift „Austerity is undermining Europe's grand vision“, die Probleme in Europa sind hauptsächlich das Ergebnis politischer Fehler.
Er zählt auf:
- Falsche Reihenfolge (Einheitswährung zuerst, politische Einheit später)
- Schlechte wirtschaftspolitische Ausrichtung, einschließlich der Ignorierung von Keynes und der Vernachlässigung öffentlicher Dienstleistungen
- Autoritäre Entscheidungen ohne öffentlichen Diskussionsprozess
- Anhaltende intellektuelle Konfusion zwischen Reform und Austerität
Und schließt: „Nichts in Europa sei heute so wichtig wie ein klarer Kopf beim Nachdenken darüber, was bei der Implementierung der großen Vision eines vereinten Europa so schrecklich schief gegangen ist.“
Da hat er recht – dumm nur, dass –wie ein Kommentar zum Artikel richtig vermerkt– in dem Artikel das Wort „Schulden“ fehlt. Und das führt mich dazu, dass beim zweiten Punkt oben der Hinweis auf das missratene EZB-System (Stichwort „Target2“) fehlt. Hätte man hier eine Regelung wie z.B. zwischen den Fed-Distrikten in den USA eingeführt, um die Salden periodisch zurückzuführen, wäre zumindest die extreme Fehlentwicklung nach 2008 eingedämmt worden.
Wie Prof. Sinn (ifo) kürzlich noch einmal rekapituliert hat, betragen die Staatsschulden der fünf PIIGS rund 3,4 Bill. Euro, hinzu kämen über 9,2 Bill. Euro an Bankschulden. Doppelzählungen herausgenommen, ergeben sich rund 12 Bill. Euro. „Wenn wir mal sagen, von diesen Schulden sind 20 Prozent abzuschreiben, dann sind das ja schon 2,4 Billionen,“ sagte er dem Deutschlandfunk.
Zwar ist nicht gesagt, dass Rettungsgelder in dieser Höhe gebraucht werden, aber der ESM mit seiner zunächst angedachten Kreditkapazität von 500 Mrd. Euro nimmt sich da schon ein wenig mickrig aus.
Und das gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass Italiens Monti auf dem jüngsten Gipfel eine Aufweichung der Bedingungen durchgesetzt hat, die im Gegenzug zu Hilfsgeldern aus Brüssel einzuhalten sind. Hinzu kommt, dass der ESM demnächst Banken rekapitalisieren können soll. Damit bietet sich ein weiteres Schlupfloch an: PIIGS-Banken könnten mit einem Teil der so zusätzlich bekommenen Mitteln wiederum Schulden ihrer Staaten kaufen und den somit einen Teil des Sparzwangs nehmen.
Kurzer Einschub: Die EZB hat als Reaktion auf den EU-Gipfel beschlossen, Bank-Anleihen mit staatlicher Garantie nur noch unter bestimmten Bedingungen (und mit höheren Bewertungsabschlägen) als Sicherheit zu akzeptieren.
Man muss es an dieser Stelle ja auch noch einmal klar sagen: Der Zwang zum Sparen resultiert letztlich nicht aus irgendwelchen Brüsseler Vorgaben, sondern daraus, dass die Schulden unter Missachtung schon zuvor existenter Regeln (Maastricht-Verträge) und simpelster Finanzierungsgrundsätze einfach zu hoch geworden sind. Die Finanzmärkte hatten sich –ermuntert durch die Brüsseler Politik- lange auf dieses (profitable) Spiel eingelassen. Jetzt, da sie reagiert haben, bräuchte es eigentlich gar keine Sparvorschriften aus Brüssel mehr – das besorgen schon die hohen Zinsforderungen. (Wobei noch zu klären wäre, ob die aktuellen Zinsforderungen eine übertreibende Gegenreaktion auf die Untertreibung früherer Jahre ist oder eine diesmal realistische Risikoeinschätzung zugrunde liegt).
Was in Brüssel auf dem jüngsten Gipfel beschlossen wurde, ist zweierlei: Erstens die Lockerung von Sparzwängen, zweitens die Öffnung des deutschen Portemonnaies. Sinn hatte dazu dem Handelsblatt gesagt: „Es wurde ein Kesseltreiben veranstaltet. Um an unser Geld zu kommen, hat man Deutschland imperiale Gelüste vorgeworfen und uns den Hass der Völker prophezeit“.
Womit wir (endlich) beim Thema sind: Nach der Euphorie darüber, dass Wall Street, die City of London und die Pariser Banken gerettet wurden (Sinn), zeigt sich, dass die Implementierung der Gipfel-Beschlüsse nicht so ganz einfach ist.
Standard & Poor's schreibt z.B., der EU-Gipfel markiere eine Wende hinsichtlich der Erkenntnis, dass die Eurokrise nicht nur eine Krise der Staatsschulden, sondern auch eine der Leistungsbilanzen ist. Allerdings gebe es signifikante Implementierungsrisiken und es ist unklar, wie die Politik diese lösen kann. Daher werden die Beschlüsse auch keinen unmittelbaren Effekt auf die Kreditratings der einzelnen Länder haben.
Finnland will gegen die Möglichkeit, dass der ESM Bonds auf dem Sekundärmarkt kauft, ein Veto einlegen und sagt, man habe hierzu die Unterstützung der Niederlande. Der ESM könnte allerdings zur Umgehung eine Notfallregel aktivieren, nach der eine solche Regelung mit einer Mehrheit von 85% des ESM-Kapitals beschlossen werden könnte.
Nach dem EU-Gipfel wurde als Zeithorizont für die Implementierung der Beschlüsse der Oktober genannt. Finnlands Premierminister rechnet demgegenüber mit einem Jahr, bis die politischen Vorbedingungen geschaffen sind für direkte Kapitalbeteiligungen. Finnland will zusätzliche Sicherheiten für den Banken-Bailout in Spanien, ähnlich den Bedingungen, die für die zweite Griechenland-Hilfe ausgehandelt wurden.
Die niederländische Regierung hält Vertragsänderungen für nötig, bevor Banken direkt kapitalisiert werden können. Diese Meinung teilen immer mehr Beobachter. Inwieweit diese dann auch in den Mitgliedsländern ratifiziert werden müssen, darüber streiten sich die Geister.
Bei der Frage der direkten Bankenrekapitalisierung tauchen folgende Implementierungsprobleme auf: Welche Machtbefugnisse wird die EZB als Ort der Bankenüberwachung bekommen? Wer wird die rekapitalisierten Banken führen? Was geschieht, wenn eine Bank verstaatlicht wird?
Zu der Frage, ob der ESM den Markt von Staatsanleihen durch Käufe auf dem Sekundärmarkt stabilisieren kann, schreibt Paul De Grauwe auf VOX: „My answer is ‘no’.“ Schon wenn man nur Spanien und Italien mit ausstehenden Schulden von 800 und 2000 Mrd. Euro der ESM-Kapazität von 500 Mrd. Euro gegenüberstelle, sei klar, dass der ESM alleine zu klein ist. Es sei aber noch schlimmer, schreibt er. Sobald der ESM bei einem dieser Länder in signifikantem Umfang tätig geworden ist, destabilisiert sich der Markt hier. Denn dann beginnen sich die Erwartungen der Akteure darauf auszurichten, dass der ESM zu klein ist, um die ganze Flut aufzuhalten. Also werden sie ihre Bestände an Bonds verkaufen, was die Zinsen noch höher treibt. Der ESM stemmt sich weiter dagegen und steht bald am Ende seiner Möglichkeiten. Dieses bei Währungskrisen bekannte Phänomen wird u.a. im klassischen Krugman-Modell beschrieben.
Die einzige Möglichkeit, den Markt für Staatsanleihen zu stabilisieren, ist nach De Grauwe eine Beteiligung der EZB, sei es direkt oder indirekt über eine Bank-Lizenz des ESM. Genau dieser Weg wurde aber auf dem Gipfel nicht eingeschlagen. Die EZB kann als einzige Institution Panik im Staatsbond-Markt verhindern, weil sie unbegrenzte Feuerkraft hat. Die Unbegrenztheit ihrer Ressourcen ist geradezu die Bedingung dafür, dass sie die Märkte stabilisieren kann.
Die EZB hat im zurückliegenden Jahr über ihr Securities Markets Programme (SMP) Staatsanleihen gekauft. Aber sie hat das in der schlechtest möglichen Art und Weise getan, schreibt De Grauwe weiter, weil sie es als in Zeit und Größe begrenzt betrieben hat. Damit hat sie agiert wie eine Institution mit begrenzten Mitteln.
Anmerkung: Nach Statut der EZB ist ihr die Staatsfinanzierung verboten. Sie kann also nicht so tätig werden, wie De Grauwe vorschlägt, es sei denn sie verstößt dagegen (was ja nun auch nicht wirklich überraschen würde).
Und so dürfte nach der Euphorie der zurückliegenden Tage allmählich Ernüchterung einkehren, weil die Beschlüsse des EU-Gipfels weder leicht zu implementieren sind, noch sämtlich als geeignet angesehen werden, um die Krise in den Griff zu bekommen.
Bleibt als weitere Unsicherheit die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht, ob ESM und Fiskalpakt dem Grundgesetz genügen.
Am morgigen Donnerstag wird mehrheitlich eine Zinssenkung durch die EZB erwartet auf dann 0,75%. Gleichzeitig rechnen viele Beobachter mit einer Senkung der Verzinsung von Übernacht-Einlagen bei der EZB von 0,25 auf Null Prozent. Sollte dies so eintreten, könnte die Feierei an den Finanzmärkten noch ein wenig weitergehen. Allerdings lauert am Freitag schon die Verkündung der US-Arbeitsmarktdaten für Juni und der Beginn der Quartalssaison. Die Erwartungen liegen nicht sehr hoch. Aber: Je schlechter die Makrodaten werden, je mehr wetten die „Märkte“ gegenwärtig darauf, dass die Fed auf ihrer Sitzung am 31. Juli/1. August weitere geldpolitische Anreize beschließen wird.
Nachtrag:
(5.7.12) Deutsche Ökonomen um den Ifo-Chef Hans-Werner Sinn planen einen Appell an Kanzlerin und Bürger gegen die beim jüngsten EU-Gipfel vorangetriebene Bankenunion. Unter dem Vorhaben würden noch "unsere Kinder und Enkel leiden", heißt es. Siehe z.B. bei Spiegel online.
(5.7.12) In Spiegel Online schreibt Wolfgang Münchau, keines der beiden Schlüssel-Elemente des EU-Gipfels werde helfen. Bond-Käufe, getätigt durch ein limitiertes Vehikel seien unrealistisch bis kontraproduktiv (siehe oben!). Außerdem glaubt er nicht, dass Monti ein zweites Mal Merkel angehen könnte und sie zwingen kann, den ESM zu vergrößern oder ihm eine Bank-Lizenz zu verpassen. Und die direkte Rekapitalisierung der Banken sei abhängig von der Einrichtung der zentralen Überwachung – das aber dauere ein Jahr.
Zum anstehenden Verfahren vor dem BVG zu Fiskalpakt und ESM schreibt Münchau, er erwarte, dass das Gericht die Spielräume der Bundesregierung weiter einschränkt: "Mit der Rettungspolitik sind wir schon längst in die Grauzone des deutschen Verfassungsrechts geraten." Er schließt nicht aus, dass das Gericht die auf dem Gipfel getroffen Entscheidungen nachträglich einengt. Insbesondere die direkte Banken-Kapitalisierung durch den ESM werde wohl nicht mal eben so geschluckt. Dadurch werde sich die deutsche Position zur "Euro-Rettung" eher weiter verhärten, heißt es.
Seine Schlussfolgerung: Die Wahrscheinlichkeit eines Kollapses der Eurozone habe sich mit dem Gipfel erhöht.
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