BVG-Klagen gegen ESM und Fiskalpakt

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Gerichtspräsident Voßkuhle wird sich am 10. Juli in öffentlicher Anhörung mit den Klagen gegen Fiskalpakt und ESM befassen. Im folgenden geht es um die Klagen und den rechtlichen Hintergrund.

So hat die Initiative „Europa braucht mehr Demokratie“ mit Ex-Justizministerin Däubler-Gmelin (SPD) als Wortführerin und Prof. Degenhart als Prozessbeistand rund 12.000 Unterstützer mobilisiert, die sich ihrer Klageschrift angeschlossen haben. Weitere Klagen kommen von Gauweiler (CSU) mit seinem Prozessvertreter Prof. Murswiek, der Bundestagsfraktion der Linken (vertreten durch die Verfassungsrechtler Schneider und Fisahn) und einem Professoren-Quintett. Die Kläger sind „alte Bekannte“: Ökonom Hankel, Ökonom Starbatty, Staatsrechtler Schachtschneider, der frühere Zentralbanker Nölling und der Publizist Bandulet lehnen die gemeinsame Währung seit jeher ab. Deren Klage haben sich die Freien Wähler angeschlossen. Sie halten den ESM für einen Putsch gegen das Grundgesetz, wie deren Bundesvorsitzender Aiwanger sagte.

Fast alle Klagen schicken ihrer eigentlichen Klage einen Antrag auf Einstweilige Anordnung voraus. Damit soll erreicht werden, dass der Bundespräsident die am 29. Juni von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetze bis zum Hauptsache-Urteil nicht unterschreibt. Fiskalpakt und ESM sind völkerrechtliche Verträge, die mit Gaucks Unterschrift in Kraft treten, egal was die Karlsruher Richter später urteilen.

Gauweiler geht noch einen Schritt weiter und fordert, das es dem Bundespräsidenten förmlich untersagt wird, zu unterschreiben. Der hatte im Vorfeld (rechtlich nicht verbindlich) zugesagt, mit seiner Unterschrift zu warten, bis der Eilbeschluss ergangen ist.

Alle Beschwerden zielen auf zwei Punkte. Erstens verletzen Fiskalpakt und ESM die Haushaltshoheit des Bundestags, zweitens verletzt das Gesetzgebungsverfahren die Rechte des Parlaments.

Für den zweiten Punkt hat Gauweiler zusätzlich eine Organklage eingereicht. Er argumentiert dabei so: Als das Gesetz im April in den Bundestag eingebracht wurde, standen unter „Beteiligungsrechte“ nur drei Punkte in Klammern, die erst wenige Tage vor der Abstimmung mit Inhalt gefüllt wurden. Das sei keine beratungsfähige Vorlage im Sinne des Grundgesetzes gewesen, auch habe er zu wenig Gelegenheit gehabt, die Parlamentsbeteiligung beim ESM zu beeinflussen.

Für ihre hauptsächliche Stoßrichtung hatten die Karlsruher Richter den Klägern selbst die Vorlage geliefert. Sie hatten mehrfach darauf bestanden, dass die Wahrnehmung seines Haushaltsrechts Recht und Pflicht des Bundestags gleichermaßen ist. Die Kläger bemängeln, das sei beim ESM nicht sichergestellt. Der Rettungsmechanismus sei so eingerichtet, dass seine Gremien selbstständig entscheiden können. Bundestag oder Bundesregierung hätten darauf keinen Einfluss. Die Entscheidung über Milliardensummen werde einer demokratisch nicht legitimierten Organisation übertragen.

Daneben treten weitere Punkte: So wird gerügt, dass die Verträge keine Kündigungsklausel enthalten und so den Gesetzgeber unzulässig knebeln. Während die Schuldenbremse im Grundgesetz etwa mit Zwei-Drittel-Mehrheit wieder abgeschafft werden kann, gilt das für die Euro-Schuldenbremse im Fiskalpakt nicht. Der ESM ist unbefristet, unkündbar und unwiderruflich. „Das hat den Charakter einer Ewigkeitsregelung,“ sagt z.B. der Prozessbevollmächtigte der Linken.

Weiter wird gerügt, dass mit der Höhe des Betrags für die Haftung der Bundesrepublik Deutschland die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit gesprengt werden. Gauweiler rechnet etwa vor, dass Deutschland demnächst für eine Billion Euro einsteht, dem Dreifachen eines Bundeshaushalts. Nicht nur der Betrag selbst sprengt den Rahmen, dadurch werde es auch unmöglich, die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einzuhalten.

Dass das Bundesverfassungsgericht eine mündliche Anhörung in einem Eilverfahren ansetzt, ist ungewöhnlich und zeigt die Bedeutung, die das Gericht den Klagen beimisst.

Beim Eilverfahren spielt einerseits die Abwägung zwischen Staats- und Rechtsräson eine Rolle. Dabei geht es um die Frage, ob der ESM noch warten und der vorläufige Schirm EFSF die Lücke bis zur endgültigen Karlsruher Entscheidung füllen kann oder ob bis dahin schwerer Schaden gestiftet wird. Aus dem EFSF sind noch 250 Mrd. Euro frei (die Zusicherung zur Rekapitalisierung spanischer Banken nicht eingerechnet).

Andererseits muss das Gericht die Folgen abschätzen, die entstehen, wenn sie den Eilanträgen der Kläger nicht stattgeben. Dann kann der Bundespräsident die Gesetze unterzeichnen und die Verträge treten in Kraft. Gewinnen die Kläger die Hauptsache-Verhandlung, können die Verträge nicht mehr kassiert werden, da sie Völkerrecht sind. Die Urteile können sich dann nur noch auf spätere Fälle auswirken.

Der Staatsrechtler Schachtschneider hält es für wahrscheinlich, dass ein Stopp des ESM zum Bankrott von südeuropäischen Schuldenstaaten führt. Der Schaden werde aber noch viel größer, wenn mit der bisherigen Politik fortgefahren wird, argumentiert das Professoren-Quintett. Denn dann käme es zu Inflation mit fatalen Folgen für die hiesigen Bürger und für die Wirtschaft.

Die Bundesregierung hofft, dass die Verfassungsrichter beim ESM ähnlich vorgehen wie bei der EFSF. Diese wurde im Mai 2010 nach der ersten Griechenland-Rettung beschlossen, anschließend stimmte der Bundestag in kurzer Frist zu. Auch dagegen gab es zahlreiche Klagen vor dem BVG. Die Richter verwarfen diese und urteilten im September 2011, dass die Hilfe prinzipiell rechtmäßig ist. Sie stellten aber strengere Anforderungen für die Beteiligung des Bundestags. Der hatte sich zuvor selbst kastriert, Beschlüsse über die Bewilligung von Mitteln für den EFSF sollten nur in seinem Haushaltsausschuss gefasst werden. Das sei nicht rechtsmäßig hieß es.

Dieser Punkt des Urteils aus September 2011 ist in der Beschlussvorlage über Fiskalpakt und ESM berücksichtigt: Über konkrete ESM-Zahlungen muss das Parlament jeweils noch einmal gesondert entscheiden. Für den Fall einer Verweigerung sieht der ESM-Vertrag allerdings vor, dass dann Stimmrechte in seinem Gouverneursrat ganz oder teilweise verloren gehen. Insofern kann auch hier wieder festgestellt werden, dass die Haushaltshoheit des Bundestages erheblich beeinträchtigt ist.

Jörg Asmussen, Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank, warnte, dass ein Stopp von Fiskalpakt oder ESM zu Turbulenzen an den Finanzmärkten führen würde: «Die Ratifizierung des ESM in Deutschland ist wichtig, damit dieser neue Rettungsschirm schnellstmöglich zur Krisenbekämpfung einsatzbereit ist.» Als Plattform für diese Äußerung hat er bezeichnenderweise die „Bild“-Zeitung gewählt.

Wie das Urteil des BVG ausfallen wird, ist ungewiss. Nach "normalem Menschenverstand" ist bei der Euro-Retterei die Grenze zur Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (und auch mit den Maastrichter Verträgen) läääängst überschritten. Dass das Verfassungsgericht bisher dem keinen Einhalt geboten hat, ist zumindest unverständlich.

Immerhin: Der BVG-Präsident hatte in einem Interview nach dem EFSF-Urteil gesagt, mehr Europa lasse das Grundgesetz kaum zu. Misst ihn an diesen Worten, müssten die Klagen gegen Fiskalpakt und ESM Erfolg haben. Eigentlich…

U. a. sind folgende Gesetze tangiert:

Grundgesetz Artikel 20
(Widerstandsrecht der Bürger gegen Beseitigung der nationalen, demokratischen Ordnung)

"(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."

Kommentar: Die Verfasser der Grundgesetzes haben in Erinnerung an Hitlers Machtergreifung 1933 Satz (4) vorgesehen, damit der Widerstand der Bürger gegen eine Revolution von unten, wie eine von oben ("Putsch") auf einer legalen Grundlage steht. Viele Gegner des ESM bezeichnen diesen als Putsch, weil er wesentliche demokratische Rechte an eine jeglicher demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogene Institution überträgt.

Grundgesetz Artikel 79
"(1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine Friedensregelung, die Vorbereitung einer Friedensregelung oder den Abbau einer besatzungsrechtlichen Ordnung zum Gegenstand haben oder der Verteidigung der Bundesrepublik zu dienen bestimmt sind, genügt zur Klarstellung, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der Verträge nicht entgegenstehen, eine Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes, die sich auf diese Klarstellung beschränkt.
(2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig."

Kommentar: Artikel 1 regelt, dass die Menschenwürde unantastbar ist und die Menschenrechte Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft sind. Die föderale Struktur der Bundesrebublik steht nach Satz (3) unter besonderem Schutz. Die Bundesländer hatten von der Bundesregierung im Vorfeld ihrer Zustimmung zu Fiskalpakt und ESM finanzielle Gegenleistungen gefordert und zugesagt bekommen.

Grundgesetz Artikel 110
(Haushaltsrecht)

"(1) Alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind in den Haushaltsplan einzustellen; bei Bundesbetrieben und bei Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu werden. Der Haushaltsplan ist in Einnahme und Ausgabe auszugleichen.
(2) Der Haushaltsplan wird für ein oder mehrere Rechnungsjahre, nach Jahren getrennt, vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt. Für Teile des Haushaltsplanes kann vorgesehen werden, daß sie für unterschiedliche Zeiträume, nach Rechnungsjahren getrennt, gelten.
(3) Die Gesetzesvorlage nach Absatz 2 Satz 1 sowie Vorlagen zur Änderung des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes werden gleichzeitig mit der Zuleitung an den Bundesrat beim Bundestage eingebracht; der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen, bei Änderungsvorlagen innerhalb von drei Wochen, zu den Vorlagen Stellung zu nehmen.
(4) In das Haushaltsgesetz dürfen nur Vorschriften aufgenommen werden, die sich auf die Einnahmen und die Ausgaben des Bundes und auf den Zeitraum beziehen, für den das Haushaltsgesetz beschlossen wird. Das Haushaltsgesetz kann vorschreiben, daß die Vorschriften erst mit der Verkündung des nächsten Haushaltsgesetzes oder bei Ermächtigung nach Artikel 115 zu einem späteren Zeitpunkt außer Kraft treten."

Kommentar: Das deutsche Grundgesetz gibt vor, dass der Bundeshaushalt vom Bundestag beschlossen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Budgetrecht in einem Urteil vom 9. Juli 2007 als „eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle“ bezeichnet. Die Abgeordneten sollen so nicht nur über die Verwendung des Etats wachen, sondern ganz allgemein die Politik von Bundeskanzler, Ministern und Verwaltungsbehörden beaufsichtigen. Der Haushalt wird deshalb auch förmlich als Gesetz verabschiedet.

Hoheit und Entscheidungsgewalt über das Staatsbudget ist der zentrale Garant staatlicher Souveränität. Es ist eine wesentliche Errungenschaft der bürgerlichen Revolutionen in Europa, diese Entscheidungsbefugnisse den Feudalherren entrissen und den Parlamenten übertragen zu haben. Die Hoheit über das Staatsbudget gilt traditionell als „Königsrecht“ der Parlamente.

Der ESM soll mit Finanzmitteln im Umfang von zunächst 700 Mrd. Euro ausgestattet werden. Das Darlehensvolumen soll vorerst auf 500 Mrd. Euro begrenzt sein, eine Aufstockung bis hin zum Doppelten ist beabsichtigt. Die Gewährleistungssumme kann jederzeit vollständig abgerufen werden. Die Bundesrepublik Deutschland haftet im „Normal“-Fall für zunächst 190 Mrd. Euro. Angesichts der prekären Haushaltslage in mehreren Mitgliedstaaten der Eurozone ist ein Rückgriff auf die Gewährleistungssumme sehr wahrscheinlich. Im Haftungsfall verliert der Bundestag so seine Budgethoheit in einem Umfang von derzeit mehr als 60% (Bezug: Bundeseinnahmen von 306 Mrd. Euro im Jahr 2012). So wird die Haushaltsautonomie des Parlaments langfristig erheblich eingeschränkt und auch die Schuldenbremse des Grundgesetzes verletzt.

Dies gilt alles nur für den „Normal“-Fall. Fallen andere Länder als Haftungsgeber aus, verteilt sich deren Anteil auf die übrig gebliebenen. Im schlimmsten aller Fälle bleibt das gesamte Haftungsvolumen an Deutschland hängen. Andere Eurozonen-„Programme“ sind dabei noch gar nicht berücksichtigt, auch nicht Target2.

Art. 125 AEUV
(No-Bailout-Klausel)

"(1) Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.
(2) Der Rat kann erforderlichenfalls auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Definitionen für die Anwendung der in den Artikeln 123 und 124 sowie in diesem Artikel vorgesehenen Verbote näher bestimmen."

Kommentar: Deutschland hatte die Nichtbeistands-Klausel und einige andere Regeln 1992 im Maastricht-Vertrag durchgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht billigte den Vertrag am 12. Oktober 1993 und schrieb dabei zur Nichtbeistandsklausel: „Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. (…) Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrages fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen.“ Damals kündigte das Gericht an, in einem solchen Fall einzuschreiten.

Der ESM-Vertrag etabliert eine bundesstaatsähnliche Haftungsunion. In Umkehrung der Grundregel des gegenseitigen Nichtbeistands soll ein permanenter Finanzausgleich zugunsten der überschuldeten Staaten und eine solidarische Haftung der solventen Staaten geschaffen werden.

Grundgesetz Artikel 146
(Veränderung der Identität des Grundgesetzes)

"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Kommentar: Stimmt Deutschland dem ESM-Vertrag zu, wird hierdurch die Identität des Grundgesetzes tangiert. Dies erfordert gemäß Artikel 146 GG einen Volksentscheid. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 Merkmale zur Bestimmung der Verfassungsidentität herausgearbeitet. Dazu gehört die Parlamentshoheit über die Einnahmen und Ausgaben des Staates. Nur wenn die Haushaltsautonomie des Bundestages gewahrt ist, ist ein ausreichender Einfluss der Bürger auf den demokratischen Entscheidungsprozess gewährleistet. Der Vertrag von Lissabon entspricht nach dem Urteil den Vorgaben des Grundgesetzes, das deutsche Begleitgesetz jedoch verstößt gegen Artikel 38 (1) in Verbindung mit Artikel 23 (1). Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrates sind nicht ausreichend ausgestaltet worden. In den Mitgliedsstaaten muss ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben, heißt es.

Im Rettungsschirm-Urteil vom 7. September 2011 hatte das BVG ausgeführt, dass das erste Griechenland-Hilfspaket sowie der im Mai 2010 beschlossene temporäre EFSF verfassungsgemäß sind. Es könne nicht festgestellt werden, dass die Höhe der Bürgschaften die haushaltswirtschaftliche Belastungsgrenze derart überschreite, dass die Haushaltsautonomie völlig leerliefe, heißt es. Danach sind Bundestag und Bundesrat nach geltendem Verfassungsrecht aber umgekehrt auch gehindert, einen Mechanismus zu beschließen, der das erhebliche Risiko birgt, dass Ausgaben oder Einnahmeausfälle zu unvorherseh- und unkalkulierbaren Belastungen führen. Zudem darf die Bundesregierung Garantiezusagen für den Euro-Rettungsschirm nicht mehr über die Köpfe der Abgeordneten hinweg machen, heißt es im Urteil.

 

Im Juni 2011 hatte der damals scheidende AR-Vorsitzenden von freenet, Thorsten Kraemer, auf der HV des Unternehmens eine persönliche Erklärung abgegeben, die nichts an Aktualität verloren hat. Er hat die Vorgehensweise der deutschen Regierung und der „leider“ mit der Forderung nach Eurobonds noch umfassender versagenden parlamentarischen Opposition als die größte wirtschaftliche und politische Katastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet: „Die Pervertierung der Währungsunion in einen Bailout-Club, in dem Kompetenz und Haftung für öffentliche Ausgabenentscheidungen de facto getrennt wurden, ist ein unerträglicher Zustand, der mit Errichtung eines “permanenten Rettungsschirms” nun auch noch perpetuiert werden soll. Das Ergebnis sei nichts anderes als ein finanzieller Staatsstreich gegen das eigene Volk.“

Und auch mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht gebe es wenig Anlass zur Hoffnung, sagte Kraemer damals. In Deutschland sei es fast schon Tradition, dass die Judikative das Parlament bei seiner Selbstentmachtung nicht behindert.

Nachtrag:
(10.7.12) Das deutsche ESM-Gesetz sichert dem Bundestag weitreichende Mitbestimmungsrechte zu – sie gehen weiter als in anderen Eurozonen-Staaten. So muss das deutsche Parlament gehört werden, wenn das Stammkapital des ESM erhöht oder sein Darlehensvolumen ausgeweitet werden soll. Bei Auszahlung weiterer Hilfstranchen an Schuldnerländer muss wenigstens der Haushaltsausschuss des Bundestags zustimmen.
Alle wichtigen Entscheidungen müssen im Gouverneursrat des ESM einstimmig fallen, allerdings kann in „Eilverfahren“ auch eine 85%-ige Mehrheit als ausreichend beschlossen werden. Da sich das Stimmgewicht des deutschen Vertreters im ESM-Entscheidungsgremium am Anteil des Grundkapitals bemisst (zunächst gut 27%), kann er durch sein „Nein“ jedoch jede Entscheidung blockieren.
Damit scheint erfüllt, was das Bundesverfassungsgericht in früheren Urteilen verlangt hat, ein (faktisches) Vetorecht (s.o.!). Das ESM-Gesetz schreibt dem deutschen Vertreter im Gouverneursrat sogar vor, dass er bei allen wichtigen Fragen teilnehmen muss. Seine Abwesenheit könnte sonst dazu führen, dass gegen den Willen des Bundestags entschieden wird.
Die Gegner des ESM machen indes geltend, dass dies alles nur im deutschen ESM-Gesetz festgeschrieben ist, nicht im ESM-Vertrag auf europäischer Ebene. Damit bindet das Gesetz die Bundesregierung nur national, gegenüber dem Parlament, nicht aber „nach außen“, völkerrechtlich. Damit besteht eine Lücke, argumentieren ESM-Gegner, das ESM-Gesetz ist nicht „verfassungsfest“.
Also wäre durchaus vorstellbar, dass der Bundestag z.B. zu einer Erhöhung des Stammkapitals des ESM „nein“ sagt, der Vertreter der deutschen Bundesregierung aber beim ESM mit „ja“ stimmt. Und die ESM-Regularien stellen sogar sicher, dass er dafür nicht einmal belangt werden kann. Er genießt nämlich in seinem Handeln als ESM-Vertreter Immunität.

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