Mainstream-Publikationen haben in den zurückliegenden Tagen eine weitere Salve von Artikeln abgefeuert, in denen die Aussichten für die Ukraine als katastrophal bezeichnet werden. Die Daumenschrauben für Selensky werden angezogen, man plädiert für eine Kurskorrektur.
So fordert etwa „Foreign Affairs“, die offizielle Zeitschrift des Council on Foreign Relations (CFR), einem Think-Tank, die USA und ihre Verbündeten unter der Überschrift „Redefining Succees in Ukraine“ sehr direkt auf, die ukrainische Haltung unverzüglich von einer offensiven in eine defensive zu drehen. Die Ukraine und der Westen befänden sich auf einem unhaltbaren Weg, der durch ein krasses Missverhältnis zwischen den Zielen und den verfügbaren Mitteln gekennzeichnet ist.
Der Artikel enthält eine Reihe von Feststellungen, die dem widerspricht, was von den meisten Pro-Ukraine-Quellen behauptet wird: Die Zeit ist auf Russlands Seite, Russlands Wirtschaft ist unempfindlich gegen Sanktionen und boomt, Moskau hat echte Freunde und Verbündete, die es unterstützen, ein riesiges, ungenutztes Arbeitskräftepotenzial, und Putin ist politisch unangreifbar.
In einem Artikel des Wall Street Journal „It’s Time to End Magical Thinking About Russia’s Defeat“ heißt es: Putin hat Grund zu der Annahme, dass die Zeit auf seiner Seite ist. An der Front gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland den Zermürbungskrieg, der es geworden ist, verliert. Die russische Wirtschaft wurde zwar in Mitleidenschaft gezogen, liegt aber nicht in Trümmern. Putins Machtposition wurde paradoxerweise durch den gescheiterten Aufstand von Jewgeni Prigozhin im Juni gestärkt. Die Unterstützung der Bevölkerung für den Krieg ist nach wie vor solide, und der Rückhalt in der Elite für Putin ist nicht gebrochen.
Diese Ausführungen werden durch einen Artikel von Mark Galeotti von der britischen TheTimes mit dem Titel „Putin is having his best month since Russia invaded Ukraine“ untermauert.
Der WSJ-Artikel stellt weiter fest, dass Sanktionen und Exportkontrollen Putins Kriegsanstrengungen weit weniger behindert haben als erwartet. Die russischen Rüstungsbetriebe fahren ihre Produktion hoch, und die sowjetischen Fabriken übertreffen westliche Fabriken, wenn es um dringend benötigte Güter wie Artilleriegranaten geht. Die hohen Ölpreise, die zum Teil auf die enge Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien zurückzuführen sind, füllen die Staatskasse. Die Ukraine hingegen ist in hohem Maße von westlichen Finanzspritzen abhängig.
Bloomberg hat kürzlich einen massiven russischen Leistungsbilanz-Überschuss von 75 Mrd. Dollar in 2023 bestätigt. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass die „Preisobergrenze" für russisches Öl versagt hat und Russland sein gesamtes Öl teurer verkauft.
Auch der Spectator hat sich mit „Zelensky must be honest about the state of the war“ eingeschaltet: Der Artikel bezieht sich auf die Fehde zwischen Selensky und Saluschnij, Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, und hebt die Kluft zwischen dem hervor, was der Öffentlichkeit präsentiert wird, und dem, wie es tatsächlich an den Fronten aussieht.
Es zeichnet sich eine Spaltung ab zwischen den Soldaten, die wissen, wie verzweifelt die Lage ist, und der Zivilbevölkerung in den Städten, die glaubt, dass die 700.000 Menschen, die seit Februar letzten Jahres eingezogen wurden, ausreichen, um in irgendeiner Weise zu gewinnen. Die Front wird Verstärkung brauchen, die Bataillone werden immer dünner, die Soldaten sind müde, aber die Kämpfe dauern an. Ein offenes Gespräch mit der Öffentlichkeit über den wahren Stand des Krieges ist nötig.
Der Artikel des Spectator endet mit einer ziemlich morbiden Bemerkung, die im Grunde darauf hindeutet, dass Selensky weiterhin Menschenleben opfern sollte, dass die Ukraine „bereit ist, das Opfer zu bringen", um nicht einen „höheren Preis" zu zahlen.
Wenn in „hochrangigen“ Blättern zeitgleich derselbe Tenor vertreten wird, dann steckt gewöhnlich eine konzertierte Aktion dahinter, die auf bestimmte Wendungen einstimmen soll. In diesem Fall dürfte es um irgendeine Form von Waffenstillstand in der Ukraine gehen.
Wie sind die Prognosen?
Simplicius the Thinker schreibt: Für den Fall, dass Russland einen Waffenstillstand ablehnt und weiter vorprescht, besteht die Möglichkeit, dass ein verzweifelter schwarzer Schwan unter falscher Flagge die NATO ins Spiel bringt. Das sei aber angesichts des derzeitigen politischen Klimas weniger wahrscheinlich als zuvor.
Die andere Alternative besteht darin, dass die verzweifelten USA/EU anbieten könnten, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, um Russland zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Auch das wird Russland wahrscheinlich ablehnen. Ein Waffenstillstand erscheint generell angesichts der inzwischen exorbitanten, für die andere Seite kaum erfüllbaren Forderungen Russlands unwahrscheinlich, so Simplicius.
Der Vorschlag eines Waffenstillstands dürfte als Köder und Falle dienen, so Simplicius. Wenn Russland ihn ablehnt, könnte die Darstellung des Konflikts wieder auf Russland als Aggressor und friedensfeindlichen Bösewicht fokussert werden und die abebbende westliche Solidarität mit der Ukraine wieder stärken. Das würde den westlichen Regierungen helfen, die Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten oder zu verschärfen, sowie der Ukraine weitere langfristige militärische und wirtschaftliche Unterstützung zuzusichern.
George Friedman von Geopolitical Futures schreibt anlässlich des Besuchs von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in der Ukraine, es sei nie ein gutes Zeichen, wenn ein Verbündeter unter unbekannten Umständen seine weitere Unterstützung erklären muss. Er wird wahrscheinlich im Namen seiner Regierung feststellen, dass die Ukraine in einer ebenso schlechten Lage ist wie Russland. Die Ukraine hat keine Optionen mehr – weder in Bezug auf die gewünschten Ergebnisse noch in Bezug auf ihre Fähigkeit, Krieg zu führen.
Also geht er davon aus, dass Kiew versuchen wird, ein Ende des Konflikts auszuhandeln. Die Ukraine wird nicht gewinnen, und Russland auch nicht. Es ist klar, dass es auf irgendeiner Ebene Gespräche zwischen Russland und den USA gibt. Die Details sind unsicher, dass wir uns dem Ende des Krieges (in Monaten ausgedrückt) nähern, ist es nicht, so Friedman.
[Unter Verwendung von Material aus „New Raft of Articles Tighten the Screws on Zelensky, Plead for Course Correction", andere Quellen sind im Text verlinkt]Nachtrag
(22.11.23) Hermann Ploppa sieht Parallelen zur Situation in Südvietnam 1963. Der damalige, von den USA aufgebaute Diktator, der Katholik Ngo Dinh Diem, versank zunehmend im Sumpf der Korruption. Die USA machten ihm vergeblich klar, dass die von ihm betriebene Eskalation der inneren Spannungen den geopolitischen Zielen der USA abträglich war. Am 2. November fand man seine Leiche. Auch Selenski bekommt von allen Seiten zu hören, dass ein Wandel unumgänglich ist. Der US-amerikanische Analyst Stephen Bryan spricht das (noch) Unaussprechliche gelassen aus: „Selenskis Erfolg gründet einerseits auf einer offen diktatorischen Vorgehensweise, andererseits auf einem Fundament von Korruption und Diebstahl. Er finanziert seine Unterstützung, indem er den Bediensteten erlaubt, so viel zu stehlen wie nur immer möglich ist. So erkauft er sich ihre Loyalität.“
(24.11.23) Ähnliche Töne wie die oben zitierten Organe schlägt Time an: „‘Nobody Believes in Our Victory Like I Do.’ Inside Volodymyr Zelensky’s Struggle to Keep Ukraine in the Fight“ – mit einem vielsagenden Titel-Bild:
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