Unverantwortlich…

Im Business Insider steht zu lesen, nach Einschätzung des Biophysikers Dirk Brockmann sei zu Ostern deutschlandweit mit rund 280.000 Corona-Infizierten rechnen (siehe hier!).

Das wären mehr als vier Mal so viele Infizierte wie jetzt: „Dass wir zu Ostern deutschlandweit rund 280.000 bestätigte Fälle haben, ist nicht unrealistisch“, so Brockmann explizit bei Business Insider. Brockmann ist nicht irgendwer, er erstellt in seinem „Research on Complex Systems“-Labor Prognosen unter anderem für das RKI.

Im Text des „Business Insider“ wird Brockmann weiter zitiert: „Ich glaube, dass wir mit den rund 4000 bis 6000 gemeldeten Fällen pro Tag jetzt das Maximum erreicht haben“. Gut, dann rechnen wir mal, Grundschul-Kenntnisse reichen dafür im Prinzip aus. Bis Ostersonntag sind es noch 12 Tage. Macht bei 6000 neuen Fällen pro Tag also 72.000. Aktuell haben wir 67.000 Fälle, macht also per Ostern 139.000, bei 4000 neuen Fällen pro Tag kommt man auf 115.000.

Kleiner Unterschied zu 280.000, finden Sie nicht? Schaut man sich die Grafik der Progrose von Brockmann an, so kommt man an die Zahl von 280.000 nur heran, wenn man das obere Ende des (grau gekennzeichneten) Konfidenzintervalls von 98% nimmt (Chartquelle).

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Ein Konfidenzintervall ist so konstruiert, dass der zu erwartende Wert (hier das Ergebnis der Prognose (rote Linie im Chart) überdeckt wird, wenn das Schätzverfahren für viele Stichproben wiederholt wird. Im Beispiel bedeutet das, dass bei einem 98er Intervall nur bei zwei Prozent der Stichproben der zu erwartende Wert nicht überdeckt wird.

Das Konfidenzintervall überdeckt mit 98% den Bereich von etwa 75.000 bis 280.000. Bei 68% kommt der Bereich von etwa 90.000 bis 180.000 in Betracht (im Chart rot gekennzeichnet). Die Zahlen 98% und 68% haben mit gewählten Faktoren der Standardabweichung zu tun. Bemerkenswert auch, dass 98% als Intervall gewählt wird, üblich sind 95% (was schon eine deutlich niedrigere obere Grenze ergeben würde).

Solche Prognosen stehen, wie hier mehrfach dargestellt, generell auf sehr schwankendem Grund – u.a. ist die Zeitreihe kurz und man weiß nicht genau, wie viele ein Infizierter ansteckt („R“). Allein die geschätzten Werte für „R“ von 1,5 bis 3,5 eröffnen wegen der Exponentialität einen Spielraum von 2,25 bis 12,25.

Das breite Konfidenz-Intervall bestätigt die Unsicherheit – es weist entweder auf einen geringen Stichprobenumfang oder eine starke Variabilität in der Grundgesamtheit hin, mithin also auf eine „unsichere“ Prognose. Man kann es auch anders ausdrücken: Der Wert von 280.000, den der Wissenschaftler Brockmann so plakativ in den Raum stellt, ist per Ostern (2020) äußerst unwahrscheinlich.

Nach meiner Meinung ist es unverantwortlich, sich als Wissenschaftler mit seiner Aussage mehr oder weniger unkommentiert auf das obere Ende des Konfidenzbereichs festzulegen. Warum hat Brockmann nicht auf das End-Ergebnis abgestellt, was sich aus den von ihm erwarteten Zahlen bei den Neuinfektionen bis Ostern ergeben würde? Aber klar, eine knackige extreme Zahl macht sich natürlich besser, erregt mehr Aufsehen. Das liegt ganz auf der Linie der Panikmache und Einschüchterung. Nicht minder unverantwortlich ist es vom Medium, in diesem Fall dem Business Insider, solche Aussagen zu transportieren.

Ergänzung:
In der folgenden Tabelle stelle ich für die zurückliegenden 14 Tage auf das Verhältnis heutiger Neuinfektionen zu den Neuinfektionen des Vortages ab (Wachstumsfaktor = W.-Faktor; zur Begründung siehe hier!). Je länger und stärker der Wachstumsfaktor unter eins liegt, je deutlicher verlässt die Kurve der Gesamtinfektionen ihren exponentiellen Pfad.
Die Situation stellt sich also im Zeitablauf umso besser dar, je mehr Tage dieser Wachstumsfaktor unter eins liegt (siehe Zeile „Ø | <1“). Zusätzlich bekommt man einen Eindruck, wie nachhaltig die Entwicklung hin zu Wachstumsfaktoren unter eins ist, wenn man verschiedene Mittelwerte betrachtet. In Zeile „Ø | <1“ ist der einfache Durchschnitt über alle dargestellten Tage angezeigt, in den zwei Zeilen darunter werden zwei exponentielle Mittelwerte dargestellt, die die jüngere Vergangenheit stärker berücksichtigen. Für eine stabile Verbesserung des Verlaufs sollte Ø>EMA>WEMA sein, erst recht mit Werten unter eins.
Daraus ergibt sich, dass Süd-Korea in diesem Sinne bereits weit fortgeschritten ist (auf recht niedrigen Niveau), gefolgt von Italien (auf hohem Niveau). Deutschland folgt mit Abstand und liegt ein wenig schlechter als die weltweite Entwicklung. Die USA haben aus dieser Sicht noch ein Stück des Weges vor sich.

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