Asylstreit oder mehr?

Die große Koalition steht vor einer Zerreißprobe. Der Anlass ist die Frage, ob Flüchtlinge an deutschen Grenzen zurückgewiesen sollen, die bereits in einem anderen europäischen Land einen Asylantrag gestellt haben. Die CSU in Gestalt von Herrn Seehofer, Heimatminster der Großen Koalition, will das auch im Alleingang durchsetzen, die CDU in Gestalt von Frau Merkel strebt eine Lösung auf EU-Ebene an – zumindest aber eine, die auf Einvernehmen mit den beteiligten Ländern beruht. Das sind vor allem Italien und Griechenland, hier landen die meisten Flüchtlinge an.

Bizarr dabei ist, dass der Streit zwischen den christlichen Schwesterparteien um einen von 63 Punkten in einem Strategiepapier Seehofers geht, den kaum jemand im Wortlaut kennt. Die SPD als dritter Koalitionspartner steht dabei und hat nicht viel zu sagen.

Die eigentlichen Motive von Seehofer liegen in den im Herbst anstehenden bayerischen Landtagswahlen. Getrieben wird er von Söder, dem Minsterpräsidenten des Freistaats, und von Dobrindt, der vor einer Zeit schon mal von einer konservativen Revolution gefaselt hat. Die CSU fürchtet um den Verlust ihrer absoluten Mehrheit und fischt auf der rechten Seite, um an die AfD verlorene Wähler zurück zu gewinnen.

Die CDU hat sich im Laufe der Jahre programmatisch nach links bewegt. Damit hat sie der SPD einen Teil ihrer Wählerschaft weg gefressen, aber viele ihrer angestammten Wähler nach und nach verprellt. Es ist unmöglich, dass eine „Volkspartei“ Wähler von halb-links bis (ganz) rechts auf sich ziehen kann. Die rechte Flanke des politischen Spektrums ist damit frei geworden, hier stoßen vor allem Kräfte wie die AfD hinein. Die Veränderung der Landschaft der Volksparteien hat sich für keine gerechnet. Die SPD konnte nicht weiter links fischen und liegt daher in der Wählergunst mitlerweile bei unter 20%, die „C“-Parteien haben ebenfalls kräftig Federn gelassen. Die AfD mutierte zur stärksten Oppositionskraft im Bundestag.

Merkel hatte mit dem Versuch, eine Jamaika-Koalition zu bilden, die Bewegung von der CDU-Stammwählerschaft weg auf die Spitze getrieben. Sie wollte mit allem und jedem regieren. Der Versuch war handwerklich miserabel angelegt, er wäre aber wahrscheinlich auch sonst recht schnell gescheitert. So wie eine Partei nicht alles von links bis rechts abdecken kann, so kann auch keine Regierung mit so unterschiedlichen Kräften funktionieren.

Bei dem Streit der christlichen Schwestern geht es vordergründig um irgendwelche, auf die nächsten Wahlen angelegte taktische Spielchen. Im Hintergrund wirkt etwas anderes: Die moderne, finanzkapitalistisch gesteuerte Globalisierung ist in die Jahre gekommen und jetzt landet eine ihrer Konsequenzen vor unserer Haustür – Menschen, die in ihren Heimatländern kein Auskommen mehr haben, vertrieben durch den Kampf um Einfluss in den ölreichen Regionen, der immer neue Kriege initiiert, und vertrieben durch den modernen Freihandel, der in Afrika vielen Ländern die Lebensgrundlagen entzogen hat.

Eine weitere Konsequenz dieser Globalisierung kommt hinzu: Die realen Einkommen der Mittelschicht haben sich in den zurückliegenden mehr als 20 Jahren kaum verbessert, die Verteilung des Wohlstands geht immer mehr in Richtung der reichsten paar Prozent der Bevölkerung.

Und eine dritte ebenfalls: Die Wachstumsraten lassen weltweit nach, die jährlich neu geschaffene Menge an volkswirtschaftlichem Vermögen wächst immer weniger. Demzufolge verschärft sich der Kampf um dessen Verteilung. Für Almosen und Wahlgeschenke ist immer weniger Raum. Trump ist hier das herausragende Beispiel.

Diese "Zeitenwende" ist aus meiner Sicht das, was letztlich hinter dem offensichtlichen Unvermögen der etablierten Politik steht, die Weichen für die Entwicklung der Gesellschaft zu stellen.

Hannah Arendt hat vor mehr als 60 Jahren geschrieben (Zusammenfassung von mir): Demokratische Staaten funktionieren zwar im Sinne des Mehrheitsprinzips, werden aber normalerweise von einer Minderheit dirigiert. Eine demokratische Verfassung ist auf die schweigende Duldung der politisch inaktiven Elemente in der Bevölkerung angewiesen. Solche schweigenden Mehrheiten sind amorph, sie existieren in jedem Lande und zu jeder Zeit, sie bleiben aber in normalen Zeiten politisch neutral und inaktiv.

Dieser Zustand wird instabil, wenn diese Art Masse enttäuscht, entwurzelt oder deklassiert wird. Daraus entsteht Ablehnung und Hass gegen die früher geachteten etablierten politischen Führer, denen man nun unterstellt, entweder aus Dummheit oder aus betrügerischer Gemeinheit zu handeln. Das bereitet den Boden für totalitäre Bewegungen.

Meiner Meinung stehen wir genau an diesem Punkt.

Arendt schreibt weiter: Der Erfolg totalitärer Bewegungen bedeutet das Ende zweier „demokratischer“ Illusionen. Die erste ist, dass alle Bürger an öffentlichen Angelegenheiten wohlwollend interessiert sind und mit irgendeiner etablierten Partei sympathisieren, selbst wenn sie sie nicht wählen. Die zweite Illusion ist, dass die politisch neutralen und indifferenten Massen ohne kollektives politisches Gewicht, d.h. per Saldo neutral sind.

Es ist fast egal, wie der Asyl-Streit ausgeht, vielleicht kommt es sogar doch noch zu einem Kompromiss. Die Auswirkungen der modernen Globalisierung haben das Parteiensystem verändert und verändern es weiter, aktive wie passive Wählerbindungen erodieren, gesellschaftliche Konflikte brechen auf, fragmentierte Gruppeninteressen werden ausgefochten. Ob dieser Prozess gestoppt werden kann und ein Zurück zur Situation der „amorphen Masse“ möglich ist, erscheint momentan zweifelhaft. Wenn nicht, werden die Risse in der etablierten Politik immer größer und das Geschrei um Wählerstimmen immer lauter.

In diese Situation stoßen neue politische Kräfte hinein, die das Unvermögen der etablierten Politik und die immer unversöhnlicher werdenden Konflikte über den künftigen Kurs nutzen, um mit dem ganzen Arsenal totalitärer Strategien ihr Süppchen zu kochen – immer wieder lohnt ein Blick zurück in die Weimarer Zeit. Sie üben noch, um sich zu einem späteren Zeitpunkt den herrschenden Kreisen anzudienen. Wenn die etablierte Politik nichts weiter anzubieten hat als alten Wein in neuen Schläuchen, wird sie den kürzeren ziehen. Und wir alle mit.

Nachtrag:
(29.6.18) Siehe hierzu auch "Das (vorläufige) Ende der Globalisierung"

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