Die EU–Bürokratie – bedrohlicher als tyrannische Willkür

Mit minimalen Eigenmitteln und ohne direktes Zwangsorgan zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse kann sich die Europäische Union einer Herrschaftsform rühmen, für die es kein historisches Vorbild gibt.

So beschreibt Hans Magnus Enzensberger die EU. Und weiter: „Ihre Originalität besteht darin, daß sie gewaltlos vorgeht. Sie gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie ein gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, dass wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir in ihren Augen viel zu hilflos und unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden.“

Für andere kommt das mit dem Friedens-Nobel-Preis ausgezeichnete EU-Projekt als gemaßregelte Friedhofsruhe daher mit langsamer, aber stetiger Aushöhlung des Nationalstaates. Hannah Arendt sprach 1975 ganz allgemein von entpersönlichter Übermacht der in anonymen Büros agierenden Bürokratien, die sie als bedrohlicher als die empörendste Willkür vergangener Tyranneien ausmachte.

Das trifft auf die EU zu – die entpersönlichte Übermacht anonymer Bürokraten gepaart mit einem paternalistischen, vordergründig ruhigen und gewaltfreien Habitus. Die Ruhe ist trügerisch – unter der Decke läuft eine radikale Agenda, die die Abschaffung der Nationalstaaten und den Ersatz einer freien Wirtschaftsordnung durch zentrale Planwirtschaft zum Ziel hat. Das Attribut „paternalistisch“ zeigt zugleich faschistoide Merkmale auf.

Zentrale Planwirtschaft, willkürliche operative Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, Umverteilung, Missachtung von Regeln guter Haushaltsführung und Einschränkung bürgerlicher Freiheiten gehören in einem von einer zentralen Bürokratie beherrschten System zusammen.

Die europäische Einigung war nach dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet einerseits von der deutschen Favorisierung gemeinsamer Regeln etwa in der Ordnungspolitik und andererseits der zentralen Wirtschaftslenkung, die Frankreich anstrebte. So entstanden die Zollunion und der spätere Binnenmarkt auf der einen, die zentralisierte Agrarpolitik auf der anderen Seite.

Mit der deutschen Wiedervereinigung gewann die Zentralisierung von Geld- und Währungspolitik an Bedeutung, ein Zugeständnis von Kohl an Mitterand. Die Missgeburt des Euro entstand, eine Währungsunion ohne einheitliche Fiskalpolitik. Historische Beispiele zeigen, dass das nicht funktionieren kann (siehe hier!). Es kam, wie es kommen musste – wegen der inhärenten Instabilität des Euro-Systems nahm nach der Finanzkrise von 2008 der Interventionismus immer weiter zu. Rettungsschirme wurden auf- und wieder zugeklappt, es gab Subventionsprogramme in Serie (z.B. "AQR" oder auch "TLTRO" usw.).

Dieser Interventionismus führte auch zu fiskalischer Gängelung und Zwangsmaßnahmen besonders hinsichtlich hoch verschuldeter Länder – siehe v.a. Griechenland und Italien. Die Europäische Zentralbank flankierte das durch immer stärkere Steuerung des Kapitalmarktzinses in der Eurozone.

Was als „Forward Guidance“ begann, kulminierte in massiven Anleihekäufen der „quantitativen Lockerung“. Die zentrale Zins-Planung hat Einfluss auf die gesamte Wirtschaft, anders als die Steuerung spezieller Preise für Kohle, Stahl oder Agrarprodukte. So wie überhöhte Preise der gemeinsamen Agrarpolitik ein Überangebot an Butter, Milch, Wein, Fleisch usw. hatten entstehen lassen, führten die nach unten manipulierten Zinsen zu einer Geldflut. Was zunächst nur Inflation bei Asset-Preisen bewirkte, ging schließlich mit den Covid-Maßnahmen über in eine beschleunigte Teuerung in der Realwirtschaft.

Mit dem PEPP-Programm (Pandemic Emergency Purchase Program) begann die EZB, die Zinsdifferenzen der Anleihen der Mitgliedstaaten der Eurozone zu kontrollieren. Das TPI-Programm (Transmission Protection Mechanism) steht bereit, um den Anstieg der Zinsen hoch verschuldeter Länder (etwa Italien) zu begrenzen, wenn die Bilanzverkürzung aus dem Ruder laufen sollte.

Die EZB hat sich über die Zinssteuerung zur Planungsinstanz für die Staatsfinanzierung gemacht und maßt sich Kompetenzen an, die durch ihren gesetzlichen Auftrag der Wahrung der Preisstabilität nicht gedeckt sind.

Die EU marschiert in die gleiche zentralplanerische Richtung: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, als Regelwerk zur Vermeidung der Überschuldung von Staaten aus der Taufe gehoben, soll nun ein Instrument zur Steuerung nationaler Fiskalpolitik werden. Die Mitgliedstaaten sollen für die Konsolidierung ihrer Finanzen mehr Zeit bekommen, die EU-Kommission will Investitionen und Wirtschaftsreformen der Länder stärker berücksichtigen. Damit wächst der Einfluss der EU-Bürokratie bei der Gestaltung der Fiskalpolitik der Mitgliedsländer. Es kann erwartet werden, dass die im EU-Recht festgelegten Budget-Restriktionen weiter aufgeweicht werden.

Die Brüsseler Zentrale verlegt sich zunehmend auf spezifische Regulierungen für einzelne Wirtschaftszweige. Zollunion und freier Binnenmarkt als allgemeine Rahmen-Regeln galten als erfolgreich. Die spezifische Agrarpolitik scheiterte hingegen an enormen Kosten und Fehllenkungen. Daraus keine Lehren ziehend etabliert sich in der EU-Bürokratie zunehmend eine interventionistische Industriepolitik.

„Energieunion“ und „Green Deal“ spielen dabei eine besondere Rolle. Damit will die EU die Energiewirtschaft steuern und Europa zum „ersten klimaneutralen Kontinent“ machen. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, die Emissionen in der EU bis zum Jahr 2030 um mindestens 55% im Vergleich zu 1990 zu senken, bis 2050 soll Klimaneutralität erreicht sein. Zum bereits eingeführten System der Bepreisung von CO2-Emissionen kommen immer mehr spezifische Regulierungen, um von der Bürokratie als klimaschädlich stigmatisierte Wirtschaftszweige abzuwürgen.

So haben EU-Rat, -Kommission und –Parlament beschlossen, die Neuzulassung von Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 faktisch zu verbieten. Die EU-Politik maßt sich damit hellseherisches Wissen um die Antriebstechnologie der Zukunft an. Gleichzeitig werden die Lenkungseffekte der bestehenden CO2-Bepreisung hintertrieben, die man im Unterschied dazu noch als „marktwirtschaftlich“ ansehen kann.

Die Einführung der ESG-Taxonomie für den Finanzsektor geht in dieselbe Richtung. Standards für Klima- und Sozialverträglichkeit sowie gute Führung von Unternehmen sollen Anleger bei ihren Investitionsentscheidungen leiten. Angeblich zum Wohl der Allgemeinheit – in jedem Fall ein bürokratischer Popanz.

Eine weitere Wirkung des zunehmenden Einflusses der EU-Bürokratie ist die Umverteilung von Einkommen zwischen den Mitgliedstaaten. Nach einer Studie wurde in den Jahren von 2008 bis 2017 insgesamt knapp eine halbe Billion Euro über EU-Haushalt und Finanzhilfeinstitutionen von den meist nördlichen Geberländern in die Empfängerländer im Süden und Osten transferiert. Deutschland ist der mit Abstand größte Geber, Griechenland und Portugal sind die größten Empfänger. Begründet wird die Umverteilung mit der Förderung rückständiger Regionen und Länder. Zweifel sind angebracht.

Umverteilungswirkung durch die einheitliche Währung ist ein anderes Kapitel. Vom Beitritt zur Währungsunion profitierten vor allem Länder, die aufgrund ihrer hohen Staatsverschuldung einen Risikoaufschlag bei der Rendite ihrer Staatsanleihen zahlen mussten. Diese Prämie betrug für Italien im Durchschnitt der Jahre 1988–1996 für fünfjährige Staatsanleihen 5,3%. Seit 2015 liegt der Aufschlag dagegen bei durchschnittlich nur noch 1,2%. Das summiert sich bei einer Staatsverschuldung von rund 2,8 Bill. Euro auf einen „Beitritts-Rabatt“ von jährlich gut 100 Mrd. Euro.

Das Risiko eines Zahlungsausfalls hoch verschuldeter Länder mit geringer Bonität ist durch den Eurobeitritt jedoch eher größer als kleiner geworden, da das Mitgliedsland nicht mehr direkt auf seine Zentralbank als Finanzquelle zurückgreifen kann. Und so hat Deutschland Haftungsrisiken für die verschiedenen Euro-Rettungsprogramme, die Hilfsprogramme der EU und den Kredit an das Eurosystem im Rahmen des Interbank-Zahlungssystems Target2 (aktuell 1,1 Bill. Euro) in Höhe von insgesamt rund 1,7 Bill. Euro übernommen.

Je stärker Risiko und Verantwortung auseinanderfallen, je stärker die Bürokratie ausufert, je stärker ist die Tendenz, Schulden zu machen. Die EZB hat dies, wie dargestellt, unterstützt durch nach unten manipulierte Zinsen. Mit Aufkommen der Inflation kann sie die monetäre Defizit-Finanzierung nicht länger mit ihrem gesetzlichen Auftrag der Preisstabilität verbinden. Die Leitzinsen mussten steigen, statt des weiteren Ankaufs von Staatsanleihen der Mitgliedsländer und ausgewählter Unternehmen, muss sie nun beginnen, Bestände zu verkaufen. Die hoch verschuldeten Staaten sehen strafferen Finanzierungsbedingungen entgegen.

Daher schafft die EU-Bürokratie nun Instrumente zur gemeinsamen Verschuldung, wie etwa das 372 Mrd. Euro schwere Programm InvestEU, das 100 Mrd. Euro umfassende Kurzarbeitsprogramm SURE und das 800 Mrd. große Programm NextGenerationEU. Was die EZB mit niedrigen Zinsen und Anleihekäufen bisher tat, macht nun die Europäische Union. „Eurobonds“, lange Zeit von Deutschland abgelehnt, kommen damit auf indirektem Weg. Und wenn die Schuldenberge erst vergemeinschaftet sind, kommt ihre Monetarisierung durch die EZB.

Die allumfassende Regulierungswut des bürokratischen Systems der EU erdrückt die individuelle Freiheit. Die EU ist dem liberalen Rechtsstaat verpflichtet – aber was heißt das schon? Auch die EZB schert sich wenig um ihren gesetzlichen Auftrag.

Ein liberaler Rechtsstaat begründet eine Ordnung, in der die Freiheit des Einzelnen nur so weit eingeschränkt ist, wie es nötig ist, um die Freiheit des anderen zu sichern. Verlässt man dieses Prinzip, landet man bei einer Identitätspolitik von Gruppen-Interessen. Die Interessen von vergleichsweise wenigen Gruppen lassen sich besser zentral organisieren als die divergierende Vielfalt von Millionen Individuen. Daher bevorzugen wuchernde Bürokratie-Apparate eine an Gruppen ausgerichtete Lenkung. Dabei geht die liberale Ordnung, der Individualismus, verloren. Der Einzelne und seine Rechte zählen nicht mehr (siehe auch hier!).

Die Geschichte von Europäischer Union, Eurozone und von Europäischer Zentralbank ist die Geschichte der zunehmenden Zentralisierung und Bürokratisierung. Immer stärkere Eingriffe in das operative Marktgeschehen, sowie der inhärent instabile Euro erfordern immer mehr Interventionismus. Die Bürokratie nährt die Bürokratie. Die individuelle Freiheit bleibt auf der Strecke. Die Bürokratie tritt auf als fürsorgende, Gerhorsam beanspruchende Allmacht. Die Nationalstaaten werden schleichend abgeschafft.

[Unter Verwendung von Material u.a. aus dieser Quelle]

Ergänzung:
Hannah Arendts Bemerkung lautet vollständig so: Vor dem „Druck einer sich abzeichnenden Veränderung aller Staatsformen, die sich zu Bürokratien entwickeln, das heißt, zu einer Herrschaft (……) von anonymen Büros oder Computern, deren völlig entpersönlichte Übermacht für die Freiheit und für jenes Minimum an Zivilität, ohne das ein gemeinschaftliches Leben nicht vorstellbar ist, (und das) bedrohlicher sein mag als die empörendste Willkür von Tyranneien in der Vergangenheit." (zitiert nach dieser Quelle)
Von Arendt stammt auch folgende, wie ich finde, kluge Bemerkung: „Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute." (Siehe auch hier!)

Nachtrag:
(7.3.23) Hans-Werner Sinn schreibt zum Thema „Inflationstreiber EZB" hier.

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