Vor genau 200 Jahren entwickelte der britische Ökonom David Ricardo in seinem Werk „On the Principles of Political Economy and Taxation“ die Theorie über die Vorteile des internationalen Warenaustausches. Das sei die Pflichtlektüre für alle Gegner der Globalisierung, so steht es in der Wirtschaftswoche zu lesen. Und sie sei aktueller denn je – angesichts Trump & Co.
David Ricardo setzte einen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrsatz in die Welt, an den fast alle Ökonomen glauben. Danach dient der freie Handel von Waren und Dienstleistungen dem Wohlergehen der Menschheit. Denn wenn Güter Grenzen ungehindert überschreiten können, finden Arbeit, Boden und Kapital automatisch ihre sinnvollste Verwendung. Durch die internationale Arbeitsteilung steigt der Wohlstand, weil jedes Land sich auf das konzentriert, was es am besten, bzw. am effizientesten kann.
Ricardo verdeutlicht dies am Beispiel des Handels mit Wein und Tuch zwischen Portugal und England: Ohne internationale Arbeitsteilung und Handel stellen beide Länder jeweils Wein und Tuch her. Portugal hat bei beiden Produkten einen absoluten Kostenvorteil, weil dort jeweils weniger Arbeitskräfte benötigt werden als in England. Trotzdem lohnt es sich bei internationalem Handel, dass sich Portugal auf Wein konzentriert und England die Produktion von Tuch überlässt. Die Arbeitskräfte können nämlich in der portugiesischen Weinproduktion produktiver, d.h. kostengünstiger eingesetzt werden als in der Tuchproduktion. Umgekehrt gilt für England, dass bei Aufgabe der Weinproduktion die dort frei werdenden Arbeiter in der Tuchherstellung produktiver eingesetzt werden können. Am Ende, bei Nutzung der komparativen Kostenvorteile, stellen beide Länder zusammen mit derselben Anzahl von Arbeitskräften mehr Tuch und mehr Wein her als zuvor.
Der Handel mit dem Partner-Land gewährleistet nach Ricardo die Versorgung mit dem selbst nicht produzierten Gut. Auch Länder, die in der Produktion aller Güter höhere Kosten haben, können an der internationalen Arbeitsteilung teilnehmen, so lange es sich für andere Partner lohnt, die Produktion bestimmter Waren aufzugeben und diese dem Land mit insgesamt höheren Kosten zu überlassen.
Das „Verfolgen des individuellen Vorteils ist bewundernswert mit dem allgemeinen Wohle des Ganzen verbunden“, schreibt Ricardo. Hinter dieser Auffassung steckt derselbe Optimismus hinsichtlich des damals sich erst entwickelnden neuen Wirtschaftssystems, dem Kapitalismus, wie ihn auch Adam Smith pflegte. Dessen unsichtbare Hand würde es über den freien Markt so richten, dass alle davon profitierten. Win-win auf allen Ebenen, das war das Credo der ideologischen Geburtshelfer des Kapitalismus. Daraus ergab sich das Postulat der frühen Jahre des Kapitalismus: Für freien Handel und Arbeitsteilung, gegen staatliche Lenkung. Das sollte auch ein Beitrag zum Weltfrieden leisten.
In einem statischen Modell sind die Überlegungen Ricardos zutreffend. Auch in der Beziehung von Ländern mit ähnlicher Entwicklungsstufe und ähnlicher Größe mag das Modell gelten. Denn dann spielen politische Machtfaktoren keine bedeutende Rolle. Wenn diese Voraussetzung jedoch nicht gilt, wenn der Schwächere seine Spezialisierung weit genug getrieben hat, auch weil er anfänglich davon tatsächlich profitieren konnte, so gerät er im Laufe der Zeit gerade dadurch in eine abhängige Position. Dies kann (und wird) der stärkere Partner zu seinem Vorteil nutzen und über höhere Preise für vom Abhängigen dringend benötigte Güter Extraprofite erzielen, seinen Wohlstand also auf Kosten des Anderen mehren. Und so kommt es am Ende zu einer ausgeprägten politisch-wirtschaftlichen Abhängigkeit des Schwächeren. Und immer weniger zu einer Mehrung des gemeinsamen Wohlstands, immer mehr jedoch zu einer Umverteilung.
Diese negative Seite der Entwicklung ist rein wirtschaftlich gesehen nicht zwangsläufig, aber umso wahrscheinlicher, je weniger breit die Wirtschaft eines Landes aufgestellt ist und je weniger einer übermäßigen Spezialisierung entgegengesteuert wird. Hierbei spielt politische Einflussnahme von außen eine wichtige Rolle (siehe auch hier!). Am Beispiel des Nafta-Abkommens und seiner Auswirkungen auf die Wirtschaft Mexikos hatte ich dies hier diskutiert.
Ein aktueller Nebenaspekt des komparativen Kostenvorteils: Die Landesgrenzen sind heute durchlässig nicht nur für Produkte, sondern auch für Kapital und Technologie. Dadudurch reduzieren sich die Kostenunterschiede immer mehr. Länder mit insgesamt erhöhten Kosten können dann schneller als zuvor zu Verlierern des Freihandels werden.
Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Samuelson hat zu Recht gesagt: „Durch Protektionismus versiegt die Lebensader der Wirtschaft.“ Aber „Protektionismus“ sollte weiter gefasst und verstanden werden als Machtpolitik einer wirtschaftlichen Elite, die unkontrolliert und ohne funktionierenden internationalen Ordnungsrahmen agiert.
Der Freihandel ist im Umfeld der dominierenden Rolle des Finanzkapitals zu einem politisch-ökonomischen Machtmittel der Umverteilung mutiert, wobei die zentrale Rolle nicht von einzelnen Ländern, sondern von großen Finanzinstitutionen und –Konglomeraten gespielt wird. Angesichts des nachlassenden Wachstums der Weltwirtschaft tritt der Aspekt der Umverteilung immer stärker in den Vordergrund – und das schwächt umgekehrt auch wieder die Weiterentwicklung des allgemeinen Wohlstands.
Ein Wort noch zum beliebten Argument der Gegner des Freihandels, es würden deswegen Jobs ausgelagert – auch ist Trump ja mit dem Wahlversprechen angetreten, diese zurück zu holen. Jede technologische Entwicklung führt dazu, dass in „alten“ Industriesektoren Arbeitsplätze wegfallen. Das hat nur am Rande mit der Globalisierung, bzw. dem Freihandel zu tun. Im Zuge der technologischen Entwicklung ergibt sich im Zeitalter unserer Art Globalisierung/Freihandel wohl, dass Arbeitsplätze in „alten“ Sektoren bevorzugt ausgelagert werden. Aber die treibende Kraft hierfür ist und bleibt die Entwicklung der Produktivität. Arbeitsplätze in solchen „alten“ Sektoren in Länder mit vergleichsweise hohem Lohnniveau zurückholen zu wollen, ist im wahrsten Sinne des Wortes reaktionär und würde mittelfristig dazu führen, den technologischen Fortschritt zu bremsen. Dadurch würden dann noch ungleich mehr Arbeitsplätze wegfallen.
Es macht wenig Sinn vom Freihandel à la Ricardo zu träumen und die Segnungen der Globalisierung zu preisen. Die Ökonomie ist eine Gesellschaftswissenschaft und wenn diese wie Ricardo Regeln postuliert, die die Realität ungleicher Machtverteilung ausblenden, kommen dabei nur Wunschträume heraus. Die spielen denen in die Hände, die die Macht in diesem Gesellschaftssystem haben. Was nötig wäre, wäre eine weitgehende internationale Freizügigkeit der Handelsbeziehungen – allerdings in einem festen Ordnungsrahmen, der für gleiche Chancen sorgt. Utopie? Ich fürchte, ja.
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