Asymmetrie von Long und Short

Warum verhalten sich Short- und Long-Positionierungen nicht symmetrisch? Warum hat z.B. der S&P 500 in den zurückliegenden hundert Jahren jährlich durchschnittlich ungefähr 9% Gewinn gebracht? Damit hätte ein „epochaler“ Call (vor 100 Jahren gekauft, bis heute gehalten) einen ordentlichen Ertrag abgeworfen, während man einen „epochalen“ Put finanziell nicht überlebt hätte.

Wir beschränken uns nachfolgend auf Aktien. Welche Gründe gibt es dafür, dass Aktien offenbar langfristig „long-persistent“ sind und nicht um eine Mitte herum oszillieren? Welche Gründe gibt es, dass Korrekturphasen anders verlaufen wie Aufstiegsphasen?

1. Viele Aktien-Fonds sind aus rechtlichen Gründen „long-only“. Diese spielen von ihrer Größe her eine wichtige Rolle in den Aktienmärkten.
2. Das Management von Unternehmen (Aktiengesellschaften) und auch Investment-Banker verdienen mehr an steigenden Aktienkursen. Unternehmen holen sich Investment-Firmen, um ihre Aktien zu vermarkten. Höhere Kurse bringen dem Management Bonuszahlungen und den Investment-Firmen entsprechende Erfolgsbeteiligungen. Daher haben beide ein starkes Interesse daran, dass die Kurse steigen.
Deshalb neigen Broker dazu, positive Elemente in einer Firmen-Analyse herauszustellen. Eine Investment-Firma wird nur Abnehmer für die Aktien ihres Mandanten finden und damit eigene Einkünfte generieren, wenn sie diese positiv vermarktet, also die Botschaft aussendet, die Aktie habe Kurspotenzial.
Wenn im Gegenzug ein Analyst bärisch gegenüber einer Aktiengesellschaft wird und etwa eine Verkaufsempfehlung gibt, wird sein Broker-Arbeitgeber über kurz oder lang sein Firmen Mandat und dementsprechend Einkünfte verlieren. Außerdem dürfte der Analyst/Broker von weiteren internen Firmeninformationen abgeschnitten werden.
3. Ein Effekt dieser „Long-Präferenz“ ist auch, dass Analysten konstant zu bullisch eingestellt sind. So hat eine Studie von McKinsey 2010 herausgefunden, dass Wall Street Analysten in den zurückliegenden 25 Jahren das Gewinnwachstum mit 10 bis 12% vorhergesagt hatten, während es in der Realität dann lediglich bei 6% lag. Optimismus verkauft sich eben besser.
4. Das Geschäft der Finanzindustrie besteht zu einem guten Teil darin, die Gier der Anleger hervorzukitzeln. Und das geht insbesondere im Geschäft mit der breiten „Masse“ nun einmal mit steigenden Kursen leichter als mit fallenden. Und indem die eine Investment-Firma tutet, sie hätte x% Gewinn erwirtschaftet, tutet die andere von y%, nur um möglichst viele Anleger ständig investiert zu halten – mal hier, mal dort, Hauptsache, man ist dabei und kassiert Gebühren.
Die Märkte können länger irrational long ausgerichtet bleiben, als man in einer Short-Positionierung solvent bleiben kann. Dies hat bereits kein geringerer als Keynes festgestellt und spielt damit auf den Herdentrieb an.
5. Um den Long-Bias zu untermauern, wird nicht selten zu einer vergleichenden Bewertung von Assets gegriffen, insbesondere dann, wenn eine Aktienrallye schon (zu) weit gelaufen ist. Dann heißt es, Aktien seien im Vergleich zu XXX günstig, um so ihren weiteren Kauf zu bewerben. Diese Argumentation trägt allerdings den Keim einer Korrektur in sich…
6. Die traditionelle Short-Ausrichtung (Short-Selling, Leer-Verkauf) führt über die Leihe und anschließenden Verkauf von Aktien, die man nicht hat. Dabei fallen hohe Gebühren an, nicht selten wird eine Verzinsung von 40 bis 60% p.a. verlangt. Die hohen Kosten schmälern Short-Chancen.
7. Short-Selling kann maximal 100% bringen, ein starkes Long-Investment hingegen viel mehr. Da wird der Aufwand, solche Gelegenheiten herauszufinden, dann oft eher auf die Long-Seite gelenkt.
8. Läuft eine Long-Position gegen die Erwartung, verliert also an Wert, kann man nur 100% verlieren. Wenn hingegen ein Leer-Verkauf nicht läuft wie erwartet, nimmt sie im Portfolio einen immer größeren Raum ein, weil zu den Leihgebühren auch die immer teurer werdende Eindeckung hinzukommt. Mit einer solchen Short-Position kann man mehr als 100% verlieren.
9. Short-Positionen (Leer-Verkäufe) können in ungünstigen Momenten zur Eindeckung gezwungen werden. So hat die SEC im September 2008 Leerverkäufe bei fast 800 Finanzfirmen verboten, bevor sich die Lehman-Pleite voll auswirken konnte. Auch in normalen Zeiten kann ein Broker Leer-Verkäufe aus unterschiedlichen Gründen zurückholen – meist zu einem für den Leer-Verkäufer ungünstigen Zeitpunkt.
10. Aus den Punkten 6 bis 9 folgt, dass ein Leer-Verkauf sehr genau „getimed“ werden muss. Zudem müssen die Rahmenbedingungen sehr gründlich untersucht werden, um eine angemessene Chance wahrnehmen zu können.
11. Aus den ersten vier (fünf) Punkten folgt, dass Kurseinbrüche gewöhnlich schärfer und kürzer sind als Anstiegsphasen.
12. Es gibt ein fundamentales Argument, warum eine Long-Positionierung übergeordnet zu präferieren ist (oder war?): Bisher stützte nachhaltiges Wirtschaftswachstum auf Basis zunehmender Produktivität die Annahme aufstrebender Kurse. Wenn dies künftig nicht mehr so ist (siehe z.B. hier und hier), wird das früher oder (eher) später Auswirkungen auf den langfristigen Verlauf von Aktienkursen haben.

Der „Long-Bias“ ist zwar aus fundamentalen Gründen (Punkt 12) bisher berechtigt (gewesen?), aber in seinem Umfang schon lange übertrieben (siehe z.B. Punkt 3!). Das wird auch mit Buchungsregeln und darauf aufbauenden, häufig windigen Gewinnrechnungen unterstützt.

Mit Optionsscheinen und Hebelprodukten können Short-Positionen von „normalen“ Anlegern leichter, flexibler und kosten günstiger dargestellt werden. Das trägt tendenziell zur Symmetrie bei.

Für das neue Jahr wird übrigens ein Gewinnwachstum der US-Unternehmen von durchschnittlich 7,6% vorhergesehen.

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