Viele haben die Konfrontation zwischen dem Chef der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin als Putschversuch betrachtet. Andere haben argumentiert, dass es sich um eine Verschwörung handelte, die in gewisser Weise darauf abzielte, Russlands Fähigkeit zur Kriegsführung zu verbessern. In diesem Szenario wären Prigoschin und Putin keine Feinde, sondern Verbündete gewesen.
Das schreibt George Friedman von Geopolitical Futures in „Predictions on Russia, Wagner and Ukraine“. Nachfolgend eine auszugsweise Übersetzung.
„Ich halte das nicht für möglich. Prigoschin war ein Geschöpf Putins – sein Caterer, dann Organisator eines privaten russischen Militärunternehmens, das Putin eine bestreitbare Militärmacht verschaffte, die in vielen Ländern von russischem Interesse operieren konnte.
Es wurde die Theorie aufgestellt, dass die Vortäuschung eines Putsches gegen Putin eine Art militärischen Vorteil bringen würde. Etwa indem sie durch die Verlegung von Wagner-Mitgliedern nach Weißrussland in der Lage sein würden, die Nordflanke der Ukraine anzugreifen. Dadurch kämen sie jedoch in engen Kontakt mit der massiven ukrainischen Artillerie und möglicherweise mit Polen, das Weißrussland als unabhängigen Staat betrachten könnte, der nicht nur die Ukraine, sondern auch seine Ostflanke bedroht. Eine so große Verschwörung mit so vielen Risiken des Scheiterns macht keinen Sinn.
Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass die Reaktion innerhalb Russlands auf einen solchen „vorgetäuschten" Staatsstreich unvorhersehbar war. Die Moral auf allen Ebenen der russischen Armee hätte zusammengebrechen können, so dass die Wagner-Gruppe die einzige funktionierende Armee Russlands geblieben wäre. Putin mag Prigoschin vertraut haben, aber Wagner konnte allein keinen Krieg mit der Ukraine führen. Sie ist viel zu klein, auch wenn sie besser motiviert war als die russische Hauptarmee.
Schließlich und vor allem müssen Staatsstreiche schnell erfolgen, um einer Nation eine neue Realität aufzuzwingen und den Geist potenzieller Alternativen zu brechen, die das Vakuum füllen könnten. Geheimhaltung ist unerlässlich. Erklärungen werden am Ende eines erfolgreichen Staatsstreichs abgegeben, nicht am Anfang, wie es hier der Fall war.
Ein versuchter Staatsstreich durch einen Freund ist üblich, aber schockierend und bricht oft den Führer. Putin war sicherlich schockiert, aber nicht gebrochen.
Meine eigene Theorie lautet so: Ich glaube, dass dies ein Versuch war, den Präsidenten zu stürzen. Der Krieg läuft nicht gut, Prigoschin hatte behauptet, die Armee sei inkompetent und er sei besser geeignet, ihn zu führen, und Putin hat ihm das nicht abgekauft. Die Aktion war das, was sie zu sein schien. Es war ein gescheiterter Putsch, wie viele andere auch.
Aber ein großes Rätsel bleibt bestehen. Die Wagner-Gruppe war die gefährlichste Bedrohung für die ukrainischen Streitkräfte. Sie ist jetzt zerstreut und führungslos, aber die Ukraine hat keine Großoffensive gestartet, um die Situation auszunutzen. Die Frühjahrsoffensive geht in demselben vorsichtigen Tempo weiter wie bisher. Die Ereignisse der letzten Woche scheinen eine große Chance für die Ukraine zu sein, auch wenn alle Feinheiten der Planung zugunsten eines schnellen Handelns außer Acht gelassen werden mussten.
Russland dürfte in Kürze umfangreiche Verstärkungen in die Ukraine schicken, und die Ukraine sollte jedes Risiko eingehen, um dem zuvorzukommen. Es war genug Zeit zum Handeln, da die Wagner-Truppen auf Befehle warten. Es kann sein, dass die Wagner-Gruppe in der Ukraine noch handlungsfähig ist, aber eine Verlegung all ihrer Kräfte nach Weißrussland wäre schwer zu verbergen. Der amerikanische Geheimdienst wäre wahrscheinlich über ihren Standort informiert, und die USA würden die Ukrainer nicht durch den Fleischwolf drehen.
Dennoch gab es keine undichte Stelle, keine ukrainische Offensive und keine Nachricht über eine größere russische Verstärkung, eine Tatsache, die der Kreml sicherlich mit Stolz verkünden würde, um zu zeigen, dass Russland immer noch einsatzfähig ist.
Es scheint, als ob der Krieg auf mehreren Ebenen neu angesetzt worden ist. Er geht zwar weiter, aber nicht annähernd mit der Intensität wie vor dem Putschversuch. Die Russen scheinen sich mit Erklärungen zum Krieg zurückzuhalten, und die Ukraine tut das auch. Die USA haben viel über den Putschversuch gesprochen, aber wenig über den Krieg selbst.
Wir scheinen in eine neue Phase des Konflikts eingetreten zu sein, in der alle Seiten den Konflikt reduzieren. Putin muss sich neu formieren, und das wird Zeit brauchen. Die Ukrainer brauchen trotz ihrer Angeberei eine Einigung. Die USA haben deutlich gemacht, dass eine Einigung ihr Ziel ist. Berichten zufolge scheint sich die Wagner-Gruppe in Rostow am Don und Woronesch zu konzentrieren, weit weg von Moskau.
Die Ukraine stößt nicht in die Lücke vor und Russland stellt keine großen Truppen auf, um Wagner zu ersetzen. Die Vereinigten Staaten sind ruhig.
Meine Theorie, die nichts kostet und jeden Cent wert ist, lautet daher, dass sich die Tür für eine Verhandlungslösung geöffnet hat. Putin führt einen Krieg, den er nicht gewinnen wird – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Den USA stehen Präsidentschaftswahlen bevor, und sie brauchen die Ukraine nicht, um zu gewinnen, sondern um Russland zu blockieren. Die ukrainische Wut auf Russland ist zwar echt, aber sie kann nicht widerstehen, wenn die USA einen Kompromiss wollen.
Wie auch immer dieser Kompromiss aussehen mag, ich denke, das Endspiel beginnt jetzt. Ich könnte falsch liegen.“
Im weiteren Verlauf des oben erwähnten Artikels gibt Friedman Auszüge aus seinem Buch „Flashpoints” von 2014 wider, in denen er sich mit seinerzeitigen Prognosen hinsichtlich Russland und Ukraine befasst.
George Friedman von Geopolitical Futures ist ein gut vernetzter US-amerikanischer Analytiker der Weltpolitik. Zweifel an der Rolle der USA fechten ihn nicht an. Seine Analysen sind unabhängig von seinem Standpunkt kenntnisreich und durchdacht.
Ergänzung:
Unter der Überschrift „Avoiding a long war: US policy and the trajectory of the Russia-Ukraine conflict" hatte die RAND Corporation im Januar diskutiert, wie die USA ohne Gesichtsverlust aus ihrem nicht gewinnbaren Ukraine-Abenteuer aussteigen könnten (siehe: „Ukraine: Einen langen Krieg vermeiden!“!). Hinter den Kulissen herrscht aktuell rege diplomatische Betriebsamkeit. Gleichzeitig werden militärische Möglichkeiten nicht genutzt, wie Friedman darstellt. Befinden wir uns tatsächlich in einer frühen Phase der Umsetzung des Papiers der RAND Corporation?
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