Friedman: Wo steht Russland jetzt?

Nachfolgend eine Einschätzung von George Friedman zur aktuellen Lage in Russland. Sie scheint mir realistischer zu sein als das Geraune über die angebliche Schwäche Putins und die sonstigen, oft von Wunschdenken getriebenen Spekulationen in den Quantitätsmedien.

„Es wurde viel darüber gesprochen, dass der Aufstandsversuch der Wagner-Gruppe am Wochenende den russischen Präsidenten Wladimir Putin geschwächt haben könnte. Wenn man dem Anführer der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, Glauben schenken darf, war der Aufstand monatelang vorbereitet worden, nachdem das konventionelle Militär absichtlich Nachschub zurückgehalten hatte und vor kurzem ein direkter russischer Raketenangriff auf seine Truppen erfolgte.

Dies mag erklären, warum sich sein Marsch eher gegen den russischen Generalstab als gegen Putin selbst zu richten schien. Wie dem auch sei, die Angelegenheit war nach einem Tag vorbei; entweder ist sie gescheitert oder sie war nur als Geste gedacht. Es wird lange dauern, bis wir wissen, was bei diesem Vorfall geschehen ist.

Was wir aber jetzt schon durchdenken müssen, ist die Frage, inwieweit das Prigoschin-Debakel die russische Regierung destabilisieren, Putin schwächen oder den Krieg in der Ukraine beeinflussen wird. Putins Status steht im Mittelpunkt des Geschehens. Sollte es sich tatsächlich um einen Putschversuch gehandelt haben, so hat dieser den Kreml nie ernsthaft bedroht. Prigoschins Differenzen mit Teilen der Zentralregierung waren allgemein bekannt.

Warum also sollte Putin durch einen ins Leere gelaufenen Putschversuch eines bekannten Unzufriedenen geschwächt werden? Und was bedeutet es überhaupt, geschwächt zu sein? Bedeutet es, dass die Abteilungsleiter und insbesondere der Generalstab seine Befehle missachten würden? Bedeutet es, dass er keinen Job mehr hat?

Im politischen Sinne könnte „geschwächt" bedeuten, dass Putin nicht mehr in der Lage wäre, exekutive Entscheidungen zu treffen oder Bürokraten und Generäle zu entlassen. Das wäre eine ernste Entwicklung. Russland befindet sich im Krieg und braucht eine effektive Kommandostruktur. Wenn Putin geschwächt würde, dann würde die Kommandostruktur zusammenbrechen, was auch bedeuten würde, dass es keinen Oberbefehlshaber mehr gäbe.

In diesem Szenario ist es unwahrscheinlich, dass Putin geschwächt wird; er würde ersetzt werden. Die Frage ist, wer ihn ersetzen würde? Prigoschin hätte sich vielleicht um den Posten beworben, aber er kapitulierte schließlich vor einer Putin-Marionette, dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Es könnte natürlich auch jemand Unbekanntes kommen, aber wenn es keinen Thronfolger gibt, weiß ich nicht, was es bedeutet, dass Putin geschwächt ist. Und selbst wenn ich es wüsste, wüsste ich nicht, warum ihn ein in weniger als einem Tag gescheiterter Putschversuch schwächen sollte.

Die ernstere Frage ist, was die Wagner-Gruppe überhaupt auf dem Schlachtfeld zu suchen hatte. Private Militäraufträge sind durchaus üblich, aber die Rolle der Wagner-Gruppe in Russland war insofern ziemlich einzigartig, als sie Aufgaben übernahm, die normalerweise eher konventionellen Streitkräften als paramilitärischen Gruppen vorbehalten sind – sie war mit der Durchführung einiger der wichtigsten Schlachten des Krieges betraut.

Mit der Entwicklung seiner Rolle begann Prigoschin, seine eigene Strategie außerhalb der Befehlskette des Militärs zu verfolgen, wobei er sich manchmal offen über seine Rivalen lustig machte, die ihm dann den Nachschub abschnitten. So haben zwei Armeen versucht, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen – und sind bisher gescheitert.

Putin ist für die ganze Angelegenheit verantwortlich. Er und seine Kader dachten, Russland würde die Ukraine schnell und entschlossen besiegen. Mit dem Scheitern seines Panzerangriffs geriet der russische Angriff fast sofort ins Stocken. Russland hatte den Krieg zwar nicht verloren, aber auch nicht gewonnen, so dass er die Armee mit Wagner aufstockte. Mit anderen Worten: Putin missverstand die ukrainische Armee und seine eigene gewaltig, und anstatt sich zurückzuziehen, warf er Wagner ins Gefecht. Diese seltsame Lösung führte zum Chaos. Aus dem Chaos entstand der Aufstand.

In diesem Sinne ist die Niederschlagung eines Putschversuchs nicht das Eingeständnis eines Scheiterns, wie viele zu glauben scheinen. Das Scheitern bestand darin, eine Situation zu schaffen, in der Wagner überhaupt erst eingestellt werden musste.

Die Frage wird nun sein, inwieweit Moskau in der Lage ist, seine Kriegspläne zu überprüfen und die massiven Fehler zu erkennen. Putin hat es bisher vermieden, seine Kriegspläne überprüfen zu lassen. Wird eine Überprüfung nun aufgrund eines der wenigen Erfolge, die Putin hatte, stattfinden?

Manche glauben, der ganze Vorfall sei eine Verschwörung. Wenn das der Fall wäre, müssten an der Planung der Präsident von Belarus, der russische Generalstab, Mitglieder von Putins Stab usw. sowie ein Teil der Wagner-Gruppe beteiligt sein.

Keine professionelle Verschwörung würde jemals durchgeführt, wenn so viele Leute von den Vorgängen wüssten. Ich frage mich, wie viele Details Lukaschenko wohl irgendwann erfragt hat. Putin, ein ehemaliger KGB-Agent, würde die Unglaubwürdigkeit der Methoden der Verschwörer kennen. Kein Profi würde eine Verschwörung versuchen, an der so viele Menschen beteiligt sind.“

Der Artikel ist erschienen unter dem Titel „Where Does Russia Stand Now?“. George Friedman von Geopolitical Futures ist ein gut vernetzter US-amerikanischer Analytiker der Weltpolitik. Zweifel an der Rolle der USA fechten ihn nicht an. Nichtsdestotrotz sind seine Analysen kenntnisreich und durchdacht.

Das könnte Sie auch interessieren:

Bewertung: 5.0/5
Please wait...
blank
Schlagwörter: , ,