Abruptes Gas-Embargo führt zu BIP-Minus von bis zu 12%

Ein abrupter Stopp russischer Erdgaslieferungen lässt die deutsche Produktion dramatisch einbrechen. Das ergibt eine Studie von Prof. Dr. Tom Krebs von der Universität Mannheim, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat.

Ein abrupter Versorgungsstopp mit russischem Erdgas, sei es durch ein Embargo von seiten der EU oder Russlands, würde die Produktion in Deutschland in den ersten 12 Monaten um bis zu 286 Mrd. Euro einbrechen lassen. Das entspräche einem Rückgang des BIP von bis zu acht Prozent.

Zusätzlich zu diesem angebotsseitigen Effekt muss mit einem nachfragebedingten Rückgang des BIP um weitere zwei bis vier Prozent gerechnet werden. Das wäre die Folge höherer Energiepreise, die das Nachfragpotenzial für andere Güter einschränken. Zudem würde zunehmende Unsicherheit zu Konsum-Zurückhaltung führen.

Durch ein kurzfristiges Erdgas-Embargo wäre demzufolge ein wirtschaftlicher Einbruch in der Größenordnung des Corona-Jahres 2020 oder der Finanzkrise im Jahr 2009 zu erwarten. Allerdings könnte es sich auch zu einer Wirtschaftskrise auswachsen, wie sie (West)-Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat, so der Autor der Studie.

Die sozialen Folgen einer derart zugespitzten Energie-Krise wären mit hoher Wahrscheinlichkeit gravierender als 2009 oder 2020. Erstens stehe die deutsche Wirtschaft nach zwei Pandemie-Jahren, durch globale Lieferkettenprobleme sowie den Transformationsdruck im Zeichen des Klimawandels ohnehin unter Stress. Das könnte zu vermehrten Insolvenzen oder Produktionsverlagerungen und damit zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Die Möglichkeiten der Wirtschafts- und Geldpolitik, gegenzusteuern, seien angesichts schon stark erhöhter Ausgaben zur Abfederung der Corona-Krise und angesichts der hohen Inflation sehr eingeschränkt. Zudem treffen die Preisschocks bei Energie und Nahrungsmitteln überwiegend die unteren und mittleren Einkommen, so dass soziale Spannungen verschärft werden.

In der Untersuchung werden auch „Kaskaden-“ oder „Zweitrundeneffekte“ eines Erdgasschocks durch kurzfristige Lieferstopps untersucht. Diese Effekte ergeben sich, wenn Schlüsselindustrien ihre Produktion herunterfahren oder ganz einstellen müssen und anderen Branchen dann zentrale Vorprodukte fehlen. Das erhöhe den volkswirtschaftlichen Schaden drastisch, so der Autor. Derartige Zusammenhänge sind quantitativ schwer abzuschätzen, sie werden nach Einschätzung des Autors in den Modellierungen zu den Auswirkungen eines Energieembargos häufig zu wenig berücksichtigt.

Das Vorgehen der Studie

Die Studie geht als Rahmenannahme von einem vollständigen Import- bzw. Lieferstopp von Erdgas zwischen der EU und Russland zwischen Anfang Mai 2022 und Ende April 2023 aus.

Das Basisszenario der Studie errechnet einen kurzfristigen Nettorückgang des Erdgasangebots in Deutschland von 290 TWh (Terawattsunden) oder 32% des gesamten Verbrauchs im Jahr 2021 (~430 TWh). Dabei wird angenommen, dass kurzfristig 140 TWh Erdgas durch zusätzliche Importe aus dem nicht-russischen Ausland ersetzt werden können.

Ein optimistischeres Alternativszenario sieht vor, dass kurzfristig 190 TWh Erdgas zusätzlich aus dem nicht-russischem Ausland importiert werden. Damit ginge das effektive Erdgasangebot in Deutschland „nur“ um 240 TWh oder 27% des Verbrauchs von 2021 zurück.

An kurzfristigen Sparpotenzialen bei Erdgas sieht die Studie etwa gemäß Berechnungen von Agora Energiewende bei der Energiewirtschaft bis zu 105 TWh Erdgas, ohne die Energieversorgung zu gefährden. Zudem kann der Erdgasverbrauch im Gebäudebereich um rund 55 TWh reduziert werden, wenn alle privaten Haushalte weniger heizen. Zudem müssten flächendeckend Betriebseinstellungen verbessert und in einem substanziellen Teil der Haushalte investive Maßnahmen getätigt werden (z.B. Einbau von Wärmepumpen).

Wenn dies gelingt, verbleibt eine Lücke von 130 TWh im Basisszenario bzw. 80 TWh im alternativen Szenario, die durch eine Reduktion des Erdgasverbrauchs in der Industrie ausgeglichen werden muss. Konkret müsste die Industrie im Basisszenario dazu ihren Erdgasverbrauch gegenüber 2021 um 53% senken, im alternativen Szenario um 33%.

Dieser Korridor definiert den „negativen Erdgasschock“, der das Verarbeitende Gewerbe treffen würde. Ein Teil kann dabei laut Studie durch Substitution mit anderen Energieträgern aufgefangen werden. Es verbliebt dann aber immer noch eine Lücke von 41% des industriellen Gasverbrauchs im Basisszenario und 16% im Alternativszenario. Diese kann nur durch ein Zurückfahren der Produktion geschlossen werden.

Erdgas ist in folgenden Branchen ein essentieller und schwer ersetzbarer Inputfaktor im Produktionsprozess: Chemie, insbesondere Grundstoffchemie, Metallerzeugung und –verarbeitung, Glas und Keramik, Steine und Erden, Ernährung, das Papiergewerbe und der Maschinen- und Fahrzeugbau. Gleichwohl klammert die Studie bei der weiteren Berechnung der Folgen auch für diese Branchen einen erheblichen Teil der Produktionsprozesse und der Wertschöpfung aus, weil sie sich wahrscheinlich irgendwie umstellen ließen.

Im Basisszenario führt ein kurzfristiges Erdgasembargo unter diesen Annahmen zu einem Produktionsverlust in der erdgasintensiven Industrie, der einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung von 1,6% des deutschen BIPs entspricht. Im alternativen Szenario ergibt sich ein Verlust der Bruttowertschöpfung von 0,6% des BIPs. Das ist der ökonomische „Erstrundeneffekt“ eines kurzfristigen Erdgasembargos.

Die erdgasintensive Industrie in Deutschland steht größtenteils am Anfang der Wertschöpfungskette und produziert spezialisierte Vorprodukte. Ein Rückgang der Produktion, bzw. ein Stillstand etwa in der Grundstoff- oder Metallindustrie würde auf die gesamte Wirtschaft ausstrahlen. Diese Zweitrunden-Effekte können den ursprünglichen Produktionsrückgang in der erdgasintensiven Industrie auf das fünffache verstärken, wie Untersuchungen der Folgen des Erdbebens und der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 ergeben haben.

Ein verstärkter Import von Vorprodukten ist nach Meinung des Studienautors kein Ausweg. Die energieintensiven Industriezweige stellten zu großen Teilen Spezialprodukte her, die kurzfristig kaum zu ersetzen und auch auf dem Weltmarkt nicht ausreichend verfügbar sind. Darüber hinaus berücksichtigen die Studienergebnisse zu den Folgen des Erdbebens in Japan 2011 bereits solche Substitutionsmöglichkeiten.

Damit ergibt sich für das Basisszenario ein Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion durch angebotsseitige Effekte um bis zu 8% des BIPs und im alternativen Szenario um bis zu 3%. Hinzu kommen negative Effekte auf der Nachfrageseite, die die Studie auf weitere zwei bis vier Prozent des BIPS beziffert.

Damit kommt der Gesamteffekt eines abrupten Stopps der Versorgung mit russischem Erdgas im Basisszenario in den 12 Monaten danach auf bis zu -12% des BIP, im alternativen Szenario werden bis zu –7% erreicht. Die meisten Forschungsinstitute erwarten für dieses Jahr ohne Erdgasembargo ein BIP-Wachstum von rund 2 Prozent.

Während also ein abruptes Ende von russischen Erdgaslieferungen aktuell volkswirtschaftlich hoch riskant ist, wäre nach dieser Studie ein solches Ende bis 2025 weitaus leichter handhabbar. In einem solchen Zeitraum könnten russische Erdgasimporte durch Importe aus anderen Ländern ersetzt, aber auch Erdgas durch andere Energieträger (Öl, Kohle, Strom) substituiert werden.

Titel der Studie: „Tom Krebs: Auswirkungen eines Erdgasembargos auf die gesamtwirtschaftliche Produktion in Deutschland. IMK Study Nr. 79, Mai 2022

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(Ein Kubikmeter entspricht grob gerechnet 10 kWh; ein Terawatt = eine Bill. Watt)

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