Die fixe Idee der Preisstabilität

Der Zentralbanker William White kritisiert auf „Projekt Syndicate“ unter dem Titel „The Dangerous Delusion of Price Stability“ die Fixierung der Notenbanken auf moderate Inflation. Die nachfolgende Übersetzung stammt von mir.

Das Beharren der großen Notenbanken auf einer positiven, aber niedrigen Inflation hat sich zu einer gefährlichen fixen Idee entwickelt. Gefährlich, weil die zum Erreichen dieses Ziels erforderlichen Maßnahmen unerwünschte Nebenwirkungen haben, und weil es derzeit keinen guten Grund gibt, dieses Ziel überhaupt zu verfolgen.

Als die Inflation in den entwickelten Volkswirtschaften in den 1970er Jahren scharf anzog, bekämpften die Notenbanken diese Entwicklung zurecht. Die Notenbanker zogen daraus die Lehre, dass niedrige Inflation eine notwendige Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum ist. Im Laufe der Zeit hat sich daraus jedoch der Glaube entwickelt, niedrige Inflation sei zugleich auch eine hinreichende Bedingung für nachhaltiges Wachstum.

Mag sein, dass das an den günstigen wirtschaftlichen Bedingungen lag, die den Zeitraum der Desinflation zwischen den späten 1980er Jahren und 2007 kennzeichneten. Die Notenbanker glaubten, ihre Geldpolitik hätte die Inflation durch Steuerung der Nachfrage verringert und so viele positive Auswirkungen auf die Konjunktur gehabt. Mit dieser nachfrageorientierten Begründung rechtfertigten sie stets die Politik des knappen Geldes.

Aber dann änderte sich die Welt. Seit Ende der 1980er Jahre war die niedrige Inflation weitgehend durch angebotsbedingte Faktoren bedingt. Z.B. sorgten die Babyboomer für ein Anwachsen der Erwerbsbevölkerung und viele Schwellenländer wurden in das Welthandelssystem integriert. Diese Kräfte verstärkten das Wachstum und drückten zugleich die Inflation. Indem die Geldpolitik sich darauf konzentrierte, eine unter dem Zielwert liegende Inflation zu verhindern, schränkte sie die Nachfrage mitnichten ein.

Dies führte zu einer Phase lockeren Geldes, das zusammen mit der Finanzderegulierung und technologischen Entwicklungen den Boden für die Finanzkrise von 2007 und die darauf folgende Rezession bereitete. Der grundlegende Fehler in der Analyse bestand damals wie heute darin, nicht zwischen unterschiedlichen Ursachen der Desinflation zu differenzieren.

In der Finanzkrise erwies sich die „große Moderation“ mit ihrem Glauben an das Ende aller Krisen als Trugschluss. Die politischen Entscheidungsträger aber hielten an ihrem Irrglauben fest, eine niedrige Inflation garantiere wirtschaftliche Stabilität. Im Gegenteil, die Notenbanker bekräftigten ihre Inflationsziele noch und mussten auf eine beispiellose Palette unerprobter Instrumente zurückgreifen, um diese zu erreichen.

Viele Notenbanker empfehlen heute den Einsatz „makroprudenzieller“ Instrumente, um systemische Risiken innerhalb der Wirtschaft zu steuern. Das ermöglicht ihnen, die Zinsen länger niedriger zu halten. Dabei gibt es kaum empirische Belege dafür, dass eine derartige Politik wie beabsichtigt funktioniert. [Anmerkung: Ex-Fed-Chefin Yellen gilt als Vertreterin dieses “neuen Central banking“, das nach der Notenbanker-Tagung im August 2012 Einzug gehalten hat. Seitdem beginnen Zentralbanken, sich wirtschaftspolitische Ziele zu setzen, sie scheinen zu glauben, dass Geldpolitik alle Probleme lösen kann und muss.]

Manchmal begründen die Notenbanker ihre gegenwärtige Politik auch nicht mit den Vorteilen niedriger Inflation, sondern betonen die hohen Kosten selbst einer schwachen Deflation. Während es zahlreiche Belege dafür gibt, dass eine hohe Inflation kostspieliger ist als niedrige Inflation, gibt es kaum Belege dafür, dass eine schwache Deflation besonders kostspielig ist. Insbesondere ist empirisch nicht bewiesen, dass die Wirtschaftssubjekte vergangene deflatorische Preisrückgänge in die Zukunft fortschreiben und daher Käufe zurückstellen.

Es stimmt, Deflation erhöht die reale Belastung durch den Schuldendienst. Wenn aber das Schuldenniveau infolge einer expansiven Geldpolitik bereits eine belastende Höhe erreicht hat, ist es keineswegs plausibel, dass die Lösung des Problems in noch mehr lockerem Geld liegt.

Die Fixierung der Notenbanken auf positive, aber moderate Inflation ist unter den heute vorherrschenden Wirtschaftsbedingungen zunehmend gefährlich. Die globalen Schuldenquoten sind seit Beginn der Finanzkrise deutlich gestiegen, die Margen der traditionellen Kreditgeber sind jedoch gedrückt. Das lässt Zweifel an deren Solidität aufkommen. Zudem hat die zunehmende Abwanderung der Kreditvergabe in das Schattenbankensystem dazu geführt, dass die Preisfindung an den Finanzmärkten stark verzerrt ist und viele Vermögenswerte nun überbewertet erscheinen.

Diese Entwicklung bedroht nicht nur für die Finanzstabilität, sondern auch die Realwirtschaft. Zudem kann argumentiert werden, dass das lockere Geld selbst zu den in den zurückliegenden Jahren zu verzeichnenden unerwartet starken desinflationären Kräften beigetragen hat. Aufgrund der geringen Finanzierungskosten und der „Nachsicht“ der Aufsichtsbehörden ist das Gesamtangebot an Krediten gestiegen. Das hat dazu geführt, dass die Zahl der „Zombie-Unternehmen“ angewachsen ist, die für zusätzliches Angebot sorgen. Gleichzeitig wurde die Gesamtnachfrage durch die kontraproduktiven Wirkungen der von der expansiven Geldpolitik geförderten übermäßigen Verschuldung gebremst.

Damit erscheint ein Beharren auf einer Fortsetzung der lockeren Geldpolitik fehl am Platz. Bei so vielen potenziellen Gefahren sollten die Notenbanker in Betracht ziehen, die ihrer Politik zugrundeliegenden Annahmen zu überdenken.

Was sollten die Entscheidungsträger tun? Hinsichtlich der näheren Zukunft müssen die Regierungen aufhören, sich derart stark darauf zu verlassen, dass die Politik der Notenbanken für nachhaltiges Wachstum sorgen wird. Und anstatt obsessiv an Inflationszielen festzuhalten, sollten sich die Entscheidungsträger der Notenbanken fragen, welche praktischen Maßnahmen den Ausbruch einer neuen Krise verhindern können. Sie müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um sich auf ein derartiges Szenario vorbereiten.

Blickt man weiter in die Zukunft –nämlich bis dahin, wenn wieder ein gewisser Anschein von „Normalität“ herrscht–, so sollten sich die Notenbanken weniger auf das Erreichen kurzfristiger Inflationsziele konzentrieren und mehr darauf achten, „Boom-Bust“-Kreditzyklen zu vermeiden. Im Gegensatz zu geringfügigen Abweichungen von Inflationszielen oder sogar leichter Deflation sind diese tatsächlich kostspielig.

[William White war früher Gouverneur der Bank of Canada und danach Chef des Monetary and Economic Department der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Aktuell ist er Chairman des Economic and Development Review Committee bei der OECD.
Siehe auch „Neue Krise – nichts gelernt“.]

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