Philippine Cour-Thimann, Expertin der EZB für das Target-System, hat für eine Sonderausgabe des „CESifo Forum“ einen wissenschaftlichen Beitrag mit dem Titel „Target Balances and the Crisis in the Euro Area“ verfasst, der sich sehr ausführlich und fundiert mit der Target2-Thematik befasst. Nachfolgend eine Zusammenfassung.
Target-Salden beleuchten Ungleichgewichte und Fragmentierungen in der Währungsunion. Sie sind aus makroökonomischer und geldpolitischer Sicht in hohem Maße relevant. Sie sind aber keine treibende Kraft, sondern Ausdruck zugrundeliegender makroökonomischer Spannungen in der Eurozone, sie sind ihr Symptom, nicht ihre Ursache.
Zusammen mit der ungleichen Verteilung der Zentralbankliquidität über die nationalen Zentralbanken der Eurozone repräsentieren sie öffentliche Forderungen und Verbindlichkeiten innerhalb des Zentralbanksystems, die an die Stelle von privaten Kapitalflüssen getreten sind.
Das macht sie zu einem sehr nützlichen Echtzeit-Indikator, weil sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern hinsichtlich Zugang zum Kapital-Markt anzeigen, auch wenn die Verknüpfung zwischen den Target-Salden und der Kapitalnachfrage nicht starr ist. Target-Salden sind zudem vielleicht der einzige Zahlungsbilanz-Indikator, der den Zentralbanken auf Tagesbasis zur Verfügung steht.
Das Papier analysiert die Target-Salden im Kontext der Krise der Eurozone, insbesondere die Verbindung zwischen grenzüberschreitenden Zahlungsflüssen und Bank-Kapitalisierung, die Verbindung zwischen der Geldpolitik der EZB und den Operationen des Eurosystems, sowie den Bezug zu den makroökonomischen Ungleichgewichten in der Eurozone.
Zudem stellt das Papier Vergleiche zum Federal Reserve System an und erklärt, warum in der Eurozone ein Abrechnungssystem wie in den USA nicht angewendet werden kann. Unter anderem könnte die Forderung eines Ausgleichs der Target-Salden Erwartungen schüren, dass eine nationale Zentralbank nicht genügend Assets zur Verfügung hat. Damit aber könnte der Grundsatz „ein Euro ist ein Euro“ verletzt werden.
Schließlich diskutiert das Papier auch die verschiedenen Optionen, wie mit den Target-Salden umgegangen werden kann. Einige Optionen dürften in der Praxis schwierig zu implementieren sein, andere wären nicht kompatibel mit einer Währungsunion, die auf Preisstabilität ausgerichtet ist. Insbesondere verlangt die Währungsunion die Gleichbehandlung von Banken, gleichzeitig darf die Liquditätsversorgung nicht von den einzelnen nationalen Notenbanken abhängig gemacht werden.
Der mit den Target-Salden verbundene Transfer der Risiko-Ausrichtung von den von der Krise betroffenen Ländern in die stabileren Mitgliedsstaaten ist nur der vordergründige Schein, im Wesen findet ein Transfer von privaten Investoren zum öffentlichen Sektor statt.
Die Target-Salden sind Ausdruck der dezentralisierten Struktur des Eurosystems und des Grundsatzes, dass der Euro in allen Mitgliedsstaaten gleich viel wert sein soll. Sie repräsentieren kein über das dem Eurosystem inhärenten Risiko hinausgehendes Risiko. Die EZB und damit das Eurosystem insgesamt haben ihre Bilanz während der Krise verlängert und ihre Risiko-Ausrichtung erhöht. Um die Abhängigkeit des Bankensystems von Zentralbank-Liquidität wieder dauerhaft zu reduzieren und damit die Target-Salden herunter zu bringen, müssen die Ursachen der Krise angegangen werden.
Target-Salden sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits scheinen sie Risiken des öffentlichen Sektors widerzuspiegeln, andererseits sind sie wie Überdruckventile, die den Druck von der Realwirtschaft weglenken. Sie halten Handel und Finanzflüsse liquide und geben den Mitgliedsländern Zeit, Wachsumsbedingungen auf gesünderer Grundlage zu schaffen.
Die Verfasserin wandelt zum Schluss ihres Aufsatzes ein Wort Napoleons ab: Der Drache der Target-Salden hat die politische Diskussion aufgeschreckt, schlief aber hinsichtlich der Realwirtschaft der Eurozone. Das dürfte neben all den beängstigenden Eigenschaften der Target-Salden auch ihr größter Wert sein, schreibt sie.
Der Aufsatz ist lesenswert, er beleuchtet das Target2-Thema gründlich und umfassend. Die Politik hinsichtlich Target2-Salden liegt auf der Linie der EZB, Zeit zu erkaufen in der Hoffnung, man könne aus den von Anfang an in der Eurozone eingebauten Problemen herauswachsen, indem der überdimensionierte Bankenapparat der Eurozone Gelegenheit bekommt, sich mit akkumulierten Gewinnen zu rekapitalisieren. Da es sich bei der Finanzkrise und den besonderen Bedingungen der Eurokrise nicht um eine konjunkturelle Erscheinung, sondern um tiefe, strukturelle Probleme handelt, dürfte diese Hoffnung einer quasi automatischen Gesundung nicht aufgehen.
Der Aufsatz stellt richtig fest, dass die Ursachen der Krise angegangen werden müssen, um die Abhängigkeit des Bankensystems von Zentralbank-Liquidität wieder dauerhaft zu reduzieren und damit die Target-Salden herunter zu bringen. Welche Maßnahmen hierzu ergriffen werden müssten, ist nicht Gegenstand des Beitrags.
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