Die Bewertung von Aktien – ein schwieriges Thema und naturgemäß subjektiv. Wer heute Aktien kauft, erwartet, dass er sie in Zukunft teurer verkaufen kann. Also muss er ihren heutigen Kurs als irgendwie „günstig“ ansehen. Oder davon ausgehen, dass er in Zukunft, wann auch immer das ist, einen Dummen findet, der ihm das Zeug trotzdem abkauft.
Der S&P 500 mag im historischen Vergleich teuer erscheinen. Die Strategen der Bank of America sagen aber, dass Aktien immer noch weiter steigen dürften. Der S&P 500 sei nur halb so stark fremdfinanziert, hat eine höhere Qualität und eine geringere Ertragsvolatilität als in früheren Jahrzehnten. David Kostin, Stratege bei Goldman Sachs, sagt ebenfalls, dass sich die heutige Rally von der Vergangenheit unterscheidet. Anders als 2021, als extreme Bewertungen auf dem Markt weit verbreitet waren, bevor es im Jahr 2022 zu einer Baisse kam, sind die heutigen hohen Bewertungen auf eine Handvoll von Aktien konzentriert. Paradoxerweise ist das gut. Die Magnificent Seven, die größten Wachstumswerte im Index, sind hoch bewertet, das wird aber derzeit durch ihre Fundamentaldaten gestützt, schreibt er.
David Bahnsen hat die aktuellen Kurs-Gewinn-Verhältnisse mit 1999 verglichen, dem Jahr der Tech-Blase. Einerseits handelt es sich bei den Unternehmen mit hohem Kurs-Gewinn-Verhältnis heute um bessere Unternehmen, sowohl bei den Einnahmen wie bei den Erträgen. Andererseits werden heute 75% der S&P 500-Aktien mit dem 15-fachen ihrer Gewinne oder höher bewertet. 1999 waren es 43%.
Ist ein KGV von 15 angemessen? Anders gefragt, glaubt die Mehrheit der großen Player, dass Käufe zu diesem Bewertungsniveau zukünftig Kurs-Gewinne verprechen?
Sind historische Bewertungs-Vergleiche möglicherweise heute nicht mehr besonders hilfreich? Die Geschichte zeigt andererseits, dass es oft nicht gut ausgegangen ist, wenn Anleger enorme Prämien für zweifelhafte Gewinnprognosen gezahlt haben.
Befinden wir uns also derzeit in einer solchen Übertreibungs-Phase?
Oder darf das „normale" Kurs-Gewinn-Verhältnis heute tatsächlich höher sein als in der Vergangenheit?
Ed Yardeni vergleicht den normalen, nach Marktkapitalisierung gewichteten S&P-500-Index (rote Linie) mit einem gleich gewichteten S&P 500 (blaue Linie). Der „kopflastige“ Index ist klar teurer gegenüber der zweiten Jahreshälfte 2021, die modifizierte Variante kommt hingegen auf das gleiche Niveau.
Der marktgewichtete S&P 500 ist demnach seit Beginn der aktuellen Hausse am 12. Oktober 2022 um gut 43% gestiegen, der gleichgewichtete seit seinem Tief vom 30. September 2022 jedoch nur um knapp 30%. Die Hausse des „kopflastigen“ Index ist also ausgeprägter als der gleichgewichteten Variante. Nach Yardeni dürften sich Anleger, denen Microsoft oder Nvidia zu teuer ist, nach weniger teuren Unternehmen umsehen und so den Bullenmarkt noch ausweiten.
Keynes sagte einmal, Märkte können viel länger überbewertet bleiben, als man in der Spekulation auf eine Baisse solvent bleiben kann. Sicher ist, dass auch diese Hausse enden wird. Die Frage ist „nur“, wann.
Sind historisch-statische Vergleiche überhaupt sinnvoll? Oder gibt es wichtige Veränderungen in der Marktstruktur, die in die Bewertungsfrage einbezogen werden müssen?
Vor einigen Jahrzehnten ging das typische Wachstumsunternehmen so schnell wie möglich an die Börse. Das war der leichteste Weg, um an Kapital zu kommen und weiter zu wachsen. Also waren IPOs damals eine große Sache. Heute ist das anders. Börsennotierte Unternehmen sehen sich mit einer Vielzahl steuerlicher und gesetzlicher Vorschriften konfrontiert, die Vorteile eines Börsengangs überwiegen nicht mehr unbedingt dessen Mühen und Kosten.
Wichtiger ist: Die Risikokapital- und Private-Equity-Branche hat sich gut entwickelt. In der langen Null-Zins-Phase konnten sie wachsende Unternehmen günstig mit dem benötigten Kapital versorgen. Davon war in der Geldflut-Politik der Zentralbanken genügend vorhanden. Und so stehen Börsengänge heute eher am Ende als am Anfang der ersten Wachstumsphase, sie ermöglichen es Insidern und frühen Investoren, ihre Anteile höchstmöglich zu verkaufen. Im heutigen Markt bleiben die Unternehmen in der Hoffnung auf hohe IPO-Gewinne so lange wie möglich privat. Oder sie umgehen den IPO-Prozess und werden von einer größeren, bereits börsennotierten Firma übernommen, etwa auch einem „Mantel-Unternehmen“.
Doch in den zurückliegenden Jahren hat sich mit den steigenden Zinsen etwas geändert. Private-Equity-Gruppen besitzen Tausende von Unternehmen, die sie gerne verkaufen würden. Denn höhere Zinssätze verringern den Pool potenzieller Käufer, hohe Finanzierungskosten lassen die Ausstiegspreise sinken. Dies könnte einige der Zinssenkungsforderungen der Wall Street erklären. Sie wünschen sich niedrigere Zinssätze, so wie die Häuslebauer niedrigere Hypothekenzinsen wünschen.
Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Zahl, wenn nicht gar der kapitalmäßige Umfang der öffentlichen Aktien stark verändert hat. Die Zahl der in den USA börsennotierten Aktien ist von 8.090 im Jahr 1996 auf 4.642 im Jahr 2022 gesunken. Gleichzeitig ist aber die Zahl der börsennotierten Aktien weltweit von rund 33.000 auf 48.000 angestiegen.
Wiederum im selben Zeitraum ist die M2-Geldmenge der USA von vier auf 22 Bill. Dollar angewachsen. Zu viel Geld jagt zu wenig Waren, hier börsennotierte US-Aktien. Das kann nur bedeuten, dass der Preis dieser Waren steigt. Ein Großteil davon scheint in die Large-Cap- und Mega-Cap-Aktien zu fließen, wodurch deren Bewertungen in einer Art Schneeballeffekt steigen (Chartquelle)
Um Aktien zu kaufen, braucht man Geld, bares oder geliehenes. Was sind die Geldquellen? Eine davon ist die große Menge an COVID-Konjunkturprogrammen, die noch immer durch das System fließen. Dadurch konnten die Haushalte ihre Bilanzen sanieren und ihre Ersparnisse aufstocken. Große und kleine Unternehmen liehen sich Unmengen von Geld zu sehr niedrigen Zinssätzen, das dann an die Aktionäre (in Form von Rückkäufen), an Manager, Arbeitnehmer und Lieferanten floss. Ein Teil dieses Geldes floss wiederum in Aktien. Steigende Löhne trugen zu diesem Cashflow bei. Der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel hat viele Arbeitgeber gezwungen, die Löhne zu erhöhen und Leistungen wie die Altersvorsorge auszubauen. Dies ist ein weiterer Treibstoff für den Aktienmarkt – vor allem, da ein großer Teil davon an Beschäftigte im Niedriglohnsektor geht. (Die sind oft keine erfahrenen Investoren – daher auch der zeitweilige Hype bei Meme-Aktien.)
Die größte Geldquelle sind wie immer die Zentralbanken. Beat Notz, NS Partners Group, sagte vor langer Zeit: „Es ist ein einfaches Geschäft: Man muss nur herausfinden, ob es mehr Geld als Dummköpfe gibt – in diesem Fall steigen die Vermögenspreise, oder mehr Dummköpfe als Geld – in diesem Fall fallen die Vermögenspreise.“ Damit ist man bei einem alten Favoriten von Gavekal, dem Verhältnis von Marktkapitalisierung zu lokaler M2-Geldmenge. Das Verhältnis von Dummköpfen zu Geld sieht in den USA allmählich angespannt aus. In China gibt es hingegen viel mehr Geld als Narren.
Nun ist es angesichts der Freizügigkeit des internationalen Kapitalverkehrs zu kurz gedacht, sich auf die lokalen Geldmengen zu fokussieren. Fasst man die Geldmengen der „Big 4“, der USA, der EU, von Japan und der VR China zusammen, so hat sich die Kapitalisierung des US-Aktienmarktes als Prozentsatz hiervon seit zehn Jahren nicht wesentlich verändert.
2000 lag das Verhältnis der Kapitalisierung des US-Aktienmarktes zur Geldmenge der „Big 4“ bei 110%, aktuell sind es gut 55%. Demzufolge scheinen Aktien von einer Überbewertung recht weit entfernt. Eine große Geldmenge bedeutet im Durchschnitt mehr Nachfrage nach jeder Aktie, steigende Preise und Bewertungen sind die natürliche Folge. Außerdem konzentriert sich die Nachfrage bei kapitalisierungs-gewichteten Portfolios naturgemäß auf die größten Aktien. Das ist genau das, was wir derzeit beobachten.
Diese Arithmetik sagt uns, dass wir nicht überrascht sein sollten, dass die Aktienbewertungen gestiegen sind. Die größere Überraschung wäre, wenn sie nicht gestiegen wären.
Das heißt aber nicht, dass sie notwendigerweise weiter steigen werden. Sehen Sie sich an, wie das Geldmengen-Wachstum der „Big 4“ auszutoppen scheint – der Treibstofftank des Marktes geht langsam zur Neige.
Er könnte noch trockener werden, wenn die Bank of Japan, wie gemunkelt wird, in dieser Woche mit dem Ausstieg aus ihrer Negativzinspolitik und der Kontrolle der Zinskurve beginnt.
Die BOJ ist sozusagen der letzte Mann aus der alten NIRP/ZIRP-Ära. Eine Straffung war lange Zeit nicht nötig, da die lokale Inflation in Japan nur langsam anstieg. Doch nun zieht sie an, bedingt auch durch hohe Lohnabschlüsse, und wenn nicht in dieser Woche, so wird die BOJ wohl bald mit einer zumindest bescheidenen Straffung beginnen.
Sollte dies der Fall sein, könnten die Auswirkungen weit über Japan hinausreichen. Japan war lange Jahre Quelle für sogenannte Carry-Trade-Kredite. Man nahm billige Yen-Kredite auf und exportierte die Gelder. Das drückte den Yen und verbilligte die Rückzahlung noch. Die globale Geldmenge stieg – mit der diskutierten Auswirkung auch auf Aktienkurse.
Wenn aber die japanischen Zinsen steigen, dürften peu-à-peu per Saldo Yen-Kredite aufgelöst werden, was die Nachfrage nach Yen erhöht. Die Rückzahlung bestehender Yen-Kredite wird so allmählich teurer und könnte eine Spirale in Gang setzen. Die globale Geldmenge sinkt, der Yen gewinnt an Wert. Vermutlich wird die BoJ dann relativ bald einschreiten. Wenn die Akteure an der Durchsetzungskraft der BoJ zu zweifeln beginnen oder sich eine konjunkturelle Talfahrt (in den USA) abzeichnet, könnte sich die beschriebene Bewegung beschleunigen. Und so würde eine deutlich kontrahierende globale Geldmenge die Nachfrage nach Aktien abnehmen lassen und sie gleichzeitig gemäß dem oben beschriebenen Zusammenhang teurer aussehen lassen.
Verfolgt man den Bewertungsmaßstab des Shiller-Cape-KGVs (Shiller PE Ratio), so stellt sich das Bild entlang einer linearen Regression über den Zeitraum von 1872 bis heute wie folgt dar. Das Cape-KGV hat sich in diesem Zeitraum von 11 auf etwa 24 mehr als verdoppelt und spiegelt so die veränderten Rahmenbedingungen wider. Ich nehme das Shiller-Cape, weil es über Rendite-Entwicklung und Inflation wichtige (strukturelle) Faktoren mit einbezieht. Und in der Inflation steckt indirekt auch die Entwicklung der Geldmenge.
Nimmt man statt der einfachen linearen (rot) eine polynomische (türkis) Regression, so wäre tatsächlich die aktuelle Bewertung „fair“, weil hierbei kürzer zurückliegende Daten stärker gewichtet werden. Das statistische Bestimmtsheitsmaß ist bei beiden Varianten annähernd gleich hoch. Also könnte man den fairen Wert vielleicht auch bei knapp 30 ansiedeln.
Die Aussage des Shiller-Cape ist qualitativ die gleiche bei der Einbeziehung der verschiedenen strukturellen Bedingungen (siehe oben!): Ein einfacher historischer (statischer) Vergleich der Bewertung von Aktien ist unangemessen. Man würde damit zu früh zu dem Schluss kommen, Aktien seien überbewertet, als wenn man die langfristigen Veränderungen mit einbezieht.
Das ist die Datenseite. Dazu kommt in der kürzerfristigen Betrachtung die psychologische Seite – es trifft zu, was Keynes mit seiner Theorie vom „Beauty-Contest“ sagt: Anleger gehen beim Kauf von Aktien davon aus, was andere kaufen. Das gibt ihnen die Hoffnung, dass sie eines Tages Abnehmer zu höheren Kursen finden. Ob diese dann dümmer sind als selber, kann dahingestellt bleiben…
Die Bewertungs-Thematik bei Aktien ist komplexer als ein statischer Abgleich mit historischen Daten. Es sind strukturelle Faktoren zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere die Entwicklung der globalen Geldmenge. Hier sollte man jetzt die Bank of Japan aufmerksam beobachten.
Aktien dürften mit aktuell 34 (Shiller-Cape) zwar leicht überwertet sein, irgendetwas bei 30 wäre demnach wohl „fair“. Andererseits sind sie noch ein Stück entfernt vom jüngsten Hoch aus November 2021 bei fast 39. Ganz zu schweigen vom bisherigen Allzeithoch bei 44 aus 1999/2000.
Aus dieser Sicht muss ein Ende des Höhenflugs des S&P 500 noch nicht erreicht sein. Aber die Bewertung ist nicht der einzige Gesichtspunkt, der bei der Frage eines möglichen Topps zu berücksichtigen ist.
Vielleicht könnte man sogar so sagen: Wenn bei Aktien eine obere Umkehr einsetzt ohne dass eine wirklich übertriebene Bewertung vorliegt, dann ist „etwas im Busch".
[Unter Verwendung von Material aus „A Valuation Conversation“, anderes ist im Text verlinkt]
Nachtrag
(23.3.24) John P. Hussman: Der Aktienmarkt befindet sich derzeit an Bewertungsextremen, die in der US-Finanzgeschichte nur zweimal erreicht wurden.
Ray Dalio: Das Ergebnis für den heutigen Zustand der US-Aktienmärkte – nicht ausgesprochen „blasenhaft“!
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