Wirtschafts- und Naturgesetze, parasitäre Eliten und Neoliberalismus

In den 1970er Jahren lösten die Theorien von Milton Friedman die bis dahin weithin akzeptierten wirtschaftspolitischen Grundsätze von Keynes ab. Die Goldbindung des Dollar wurde aufgehoben, der Kapitalverkehr wurde liberalisiert; und es begann die Globalisierung, die sich heute im Niedergang zu befinden scheint. Ideologisch unterfüttert wurde das alles durch den Neoliberalismus.

Im Zentrum des Neoliberalismus steht sein Marktradikalismus, der sich als Wissenschaft von den ökonomischen Gesetzen ausgibt. Sein Versprechen ist, noch nie dagewesenen materiellen Wohlstand zu schaffen. Auf der politischen Ebene inszeniert er sich als Hort der individuellen Freiheit. Die Freiheit, die er meint, ist aber die der Plutokraten. Sie sollen frei sein, die gesamte Gesellschaft zu finanzialisieren. Alles und jedes wird vorrangig unter dem Profit-Aspekt gesehen. Der Nihilismus gipfelt darin, alles hat einen Preis, nichts hat einen Wert.

Unter „Gesetz“ verstehe ich Naturgesetze, die immer und überall wirken, z.B. das Gravitationsgesetz, ursprünglich formuliert von Isaac Newton. Auch eine Feder unterliegt diesem Gesetz, selbst wenn sie anders zu Boden fällt als ein Kilo Blei. Das mag irritieren, hat aber mit hinzukommenden Bedingungen zu tun, dem Widerstand der Luft. Im Vakuum fiele sie genauso schnell.

In diesem Sinne gibt es keine ökonomischen Gesetze. Denn ob bestimmte wirtschaftliche Wirkungszusammenhänge eintreten oder nicht, hängt vom wirtschaftlichen und sozialen Kontext ab. Insofern würde ich diese als Mechanismen bezeichnen, die wie eine Maschine oder ein Räderwerk unter bestimmten Bedingungen eingeschaltet, betrieben oder genutzt werden (oder auch nicht). Sie sind eben nicht von der Art, dass sie immer und überall ohne menschliches Zutun gleichermaßen wirken.

Lebewesen sind mit einem Selbsterhaltungstrieb ausgestattet. Er wirkt immer und überall und im Falle des Menschen auch ohne sein eigenes Zutun. Der Drang (oder Zwang) zur Selbsterhaltung bedingt gleichzeitig, möglichst ressourcenschonend zu agieren. Das betrifft externe Mittel wie etwa Nahrung und auch den optimalen Einsatz der eigenen Energie. Auch das gilt für alle Lebewesen.

Für mich steht das Gesetz der Selbst- und Arterhaltung auf der gleichen Stufe wie die Naturgesetze, also auch wie das erwähnte Gravitationsgesetz. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, er kann nur im Rahmen einer Gemeinschaft, einer menschlichen Gesellschaft (über-)leben. Insofern ist das Gesetz der Selbst- und Arterhaltung auch auf die Gesellschaft zu übertragen.

Das gesellschaftliche Wirtschaften des Menschen hat den Ur-Zweck, das eigene Selbst und die eigene Art zu erhalten. Man sollte meinen, dass sich daraus etwa auch ergibt, möglichst ressourcenschonend zu agieren. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, denken Sie nur an die „Wegwerf-Wirtschaft“. Oder denken Sie an die extrem ungleichmäßige Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands.

Das Gesetz der Selbst- und Arterhaltung in Bezug auf den Menschen und die menschliche Gesellschaft erfährt eine Perversion (so wie der Fall der Feder das Gravitationsgesetz zu pervertieren scheint): Anthropologische Faktoren beschreiben die „angeborene“ Neigung zu einem unersättlichen Habenwollen auf Kosten anderer. Macht drängt nach mehr Macht, Reichtum nach mehr Reichtum. Thomas Hobbes (1588–1679) sieht den Menschen angetrieben durch ein „fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht, da er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann.“ Dem schloss sich 1776, am nahen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, Adam Smith an: „Der niederträchtige Leitsatz der Herren der Welt lautete zu allen Zeiten: Alles für uns und nichts für andere.“ Auf der soziologischen Ebene führt das zur Ausbildung parasitärer Macht- und Besitzeliten, die sich einen politischen Apparat zur Durchsetzung ihrer Interessen schaffen. Diese staatliche Gewalt hat die Aufgabe, das jeweilige Wirtschaftssystem so auszurichten, dass es den Machthunger der Eliten stillt.

Smith plädierte für ein System der „natürlichen Freiheit“. Die unsichtbare Hand des freien Marktes ohne Monopole sorge nämlich dafür, dass eigennütziges Verhalten der wirtschaftenden Menschen oder Unternehmen zum volkswirtschaftlichen Optimum führt. Wohlgemerkt, er spricht von „Hand“ nicht von „Gesetz“. Er erörtert selbst zahlreiche Umstände, unter denen die „Hand“ in ihrem Wirken beeinträchtigt wird wie Sand im Getriebe des Mechanismus des freien Marktes. Wie wir wissen, kann zu viel Sand in einem Mechanismus diesen schnell zerstören.

Der Neoliberalismus propagiert die Gesetzmäßigkeiten des Marktes als das entscheidende Mittel zur Verbesserung des Wohlstands, zur Sicherung der menschlichen Art. Mit dieser Argumentation soll Kritik von vorne herein die Spitze abgebrochen werden – Gesetze entziehen sich jeglicher Beurteilung, sie sind einfach da. Und wenn das so ist, dann soll man ihnen freien Lauf lassen, so die neoliberale Mär. Wohin das führt, sehen wir: Der Neoliberalismus fördert das Entstehen von Eliten mit ungeheurer wirtschaftlicher (und damit auch politischer) Macht, eben parasitären Macht- und Besitzeliten. Und in deren Interesse wird dann z.B. so etwas wie eine Wegwerf-Gesellschaft betrieben.

Diese Eliten haben ein virulentes Interesse daran, die „einfachen“ Mitglieder der Gesellschaft von der Einsicht in die der Art des Wirtschaftens zugrunde liegenden Sachverhalte abzuhalten. Dazu zählt auch, immer neue Meinungen, Ansichten, Moden auf die Leute loszulassen. Und die Mär von den allmächtigen Marktgesetzen lebendig zu halten. Bezeichnenderweise spricht man da heute von „Narrativen“, Erzählungen. Eine Erzählung ist ein Produkt der Phantasie. Ziel ist es auch, den gesunden Menschenverstand als ‚simpel’, ‚naiv’ oder ‚dumm’ zu diffamieren. Das, was als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet wird, ist aber der Überlebensinstinkt, der unterscheidet, was der Selbst- und Arterhaltung dienlich ist und was nicht. Hannah Arendt sagte dazu, ist der gesunde Menschenverstand verloren, schlägt ihm die totalitäre Propaganda ins Gesicht.

Es ist von entscheidender Bedeutung, wirtschaftliche Vorgänge nicht als (Natur-)Gesetzmäßigkeit anzusehen. Bestimmte wirtschaftliche Mechanismen können zwar durchgehend wirken wie etwa der tendenzielle Fall der Profitrate (Marx). Sie sind aber gebunden an das jeweilige, also hier das kapitalistische Wirtschaftssystem. In einem großen Zeitrahmen unterliegt es dem menschlichen Einfluss, welches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem vergeht und welches entsteht. Und dann werden bestimmte wirtschaftliche Mechanismen verschwinden, neue werden kommen. Von wegen „immer und überall wirksam“…

Smiths System der „natürlichen Freiheit“ ist aus meiner Sicht „im Prinzip“ das System, das zu einem wirtschaftlichen Optimum führt. Es gleicht die gegenseitigen Interessen aus, es sorgt für einen optimalen Einsatz der zur Produktion erforderlichen Ressourcen. Zwingende Voraussetzung ist allerdings, dass es auf der Seite der Anbieter und Nachfrager keine Machtkonzentration gibt. Da aber offenbar, wie oben dargestellt, das Gesetz der Selbst- und Arterhaltung bisher stets über dessen Perversion bei einer Minderheit zum Verlangen nach immer neuer und mehr Macht führt, braucht es entweder einen neuen Typ Mensch. Oder einen Staat, der Marktparteien maximale operative Freiheit lässt, aber zugleich Rahmenbedingungen setzt und durchsetzt, um Machtkonzentrationen am Markt zu verhindern. Das war und ist die Idee des Ordoliberalismus.

Der „neue Typ Mensch“ ist aus heutiger Sicht sicher eine Utopie. Aber wenn man sich die erst rund zwei Millionen Jahre währende Entwicklung der Menschheit ansieht, besteht Hoffnung. Setzt man sie in Beziehung zur Entwicklung der Erde und bildet diese auf ein Jahr ab, so währt die Entwicklung der Menschheit erst wenige Stunden. Da ist noch Zeit… Wenn sich nicht die Menschheit, an der Spitze der Evolution angekommen, vorher selbst abschafft und Kakerlaken und Einzeller übrig lässt.

Zu den 1970er Jahren

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