Eine Oktober-Überraschung?

Nach der desaströsen Debatte zwischen US-Präsident Biden und seinem Rivalen Trump gab Biden dem Sender ABC am 4. Juli 2024 ein Interview. Im Zentrum stand die Frage, ob er sich fähig sieht für vier weitere Jahre als US-Präsident. Dann wurde Biden parteiintern abgesägt.

Petra Erler sieht in diesem Interview nicht nur eine unerhörte öffentliche Inquisition eines alten, verfallenden Mannes. Mit seinem Auftreten symbolisiere Biden auch den Niedergang der USA als Weltmacht. Im großen Bild dürfte das zutreffen.

Erler fragt: Hat Biden noch Einfluss darauf, wie der Konflikt zwischen Israel und dem Iran nach dessen zweitem Vergeltungsschlag weitergeht? Ihre Antwort tendiert zum „Nein“. Vize-Präsidentin Harris antwortete jüngst auf die Frage nach dem US-Einfluss auf Israel: „Die Arbeit, die wir geleistet haben, hat zu einer Reihe von Bewegungen seitens Israel in dieser Region geführt, die durch viele Dinge veranlasst wurden oder ein Ergebnis davon waren, einschließlich unseres Eintretens für das, was in der Region geschehen muss.
Aha!

Ein schwacher Präsident gibt den im Hintergrund agierenden Neocons einen großen Spielraum, die Dinge in ihrem Sinn zu bewegen. Die nun auf das demokratische Schild gehobene Harris ist samt ihrem Vize Walz nicht minder schwach. Nennen wir es „formbar“. Harris ist bisher nur mit guter Laune und mehr oder weniger inhaltsleeren Bandwurmsätzen (s.o.!) aufgefallen (und Lobhudelei in den Quantitätsmedien). Ansonsten versucht sie, Distanz zu Biden herzustellen, auch um davon abzulenken, dass in ihrer Zeit als Verantwortliche für die Immigration die Zahl illegaler Einwanderer sprunghaft angestiegen ist (Chartquelle). Ein gefundenes Fressen für Trump…

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Die Demokratten haben nur dann eine Chance, die Präsidentschaft zu behalten, wenn die Inflation niedrig bleibt und wenn sie den Eindruck erwecken, der Ukraine-Krieg könne bald beendet werden. Und niedrig bleibt die Inflation nur dann noch eine gewisse Zeit, wenn der Nahost-Konflikt nicht ausufert. Die US-Wahlen werden bis zu einem gewissen Grade an der Zapfsäule entschieden.

Es gibt tatsächlich Anzeichen für eine Entspannung im Ukraine-Krieg. Kaum als Nato-Generalsekretär abgetreten, spricht sich Stoltenberg für einen Kompromiss aus. Die Ukraine solle Gebiete abgeben, im Gegenzug soll Russland eine Nato-Mitgliedschaft des Landes tolerieren. Auf ukrainischer Seite wird dazu eine Dolchstoßlegende gebraucht, ein erprobtes Mittel, um festgefahrene Kriege zu beenden.

Die könnte etwa so gehen: Die Ukraine, Vorposten westlicher Werte und tapfere Verteidigerin der ‚regelbasierten Weltordnung’ [Neocons], hat sich für Europas Freiheit geopfert. Der Westen habe die Ukraine nicht adäquat unterstützt, er habe es ihr untersagt, weitreichende Waffensysteme in der Tiefe russischen Terrains einzusetzen. Diese Dolchstoßlegende wird die eigene Schuld kaschieren: Kiew führte bis zum russischen Überfall im Februar 2022 fast acht Jahre lang Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Donbass, 13.000 Menschen starben. Sie ist zugleich ein ideales Erpressungsmittel: Der Westen muss für das von ihm angerichtete Desaster kräftig zahlen. Der EU wird der teure Wiederaufbau der Restukraine ans Bein gebunden, die NATO muss dem neuen Frontstaat endlos Waffen liefern.

Im Ukraine-Konflikt drängt Außenminister Blinken zwar weiter darauf, der Ukraine zu gestatten, von den USA bereitgestellte Langstreckenraketen einzusetzen, um tiefer in Russland einzudringen. Eine entsprechende Entscheidung könnte eine Verlagerung des amerikanischen Engagements markieren. Ich sehe darin aber (wenn sie kommt) eine taktische Drohgebärde; wahrscheinlicher ist, dass der Konflikt allmählich überleitet in einen neuen Kalten Krieg mit nach Osten verschobenen Grenzen. Trump hat sich so positioniert, dass er den Ukraine-Konflikt beenden will.

Israel ist eine andere Geschichte. Israel hat in den USA die mächtigste außenpolitische Lobby, die mit ihr verbundenen Milliardäre stellen den größten Teil der Spenden an beide Parteien. Israel und seine Lobby mischen sich auch mehr als jedes andere Land in die amerikanische Politik ein. Viele sind der Ansicht, dass Israel in wichtigen Fragen die Politiker in Washington kontrolliert. Ein Beleg dafür mag der devote Empfang sein, den der US-Kongress Israels Premierminister Netanjahu kürzlich bereitet hat. Dabei will eine Mehrheit der Amerikaner die Bewaffnung Israels und seinen Schutz in Gremien wie der UNO beenden.

Mike Whitney zitiert in „How Israel Torpedoed Washington's Global Strategy“ den Experten für Außenpolitik John Mearsheimer: „Israel ist ein strategischer Albatross um unseren Hals. Es ist eine Belastung. Lassen Sie mich nur darauf hinweisen, dass die USA Israel nicht nur viele Waffen und viel Geld geben. Sie geben es bedingungslos. Das ist wirklich bemerkenswert. Wir behandeln Israel nicht wie ein normales Land und helfen ihm, weil es strategisch für uns von Vorteil ist. Aber das ist es nicht, was hier passiert. Die USA tun das, was sie tun, wegen der Lobby (AIPAC). Die USA haben ein politisches System, das so aufgebaut ist, dass Interessengruppen großen Einfluss haben können. Nun, die Israel-Lobby ist eine der mächtigsten, wenn nicht die mächtigste Lobby in den USA. Und die Lobby unternimmt enorme Anstrengungen, um sicherzustellen, dass die amerikanische Außenpolitik Israel bedingungslos unterstützt. Und sie ist dabei äußerst erfolgreich. Es ist wirklich beeindruckend, wie gut es der Lobby gelingt, die amerikanischen Außenpolitiker dazu zu bringen, Israel mit Haut und Haaren zu unterstützen.“

Patrick Lawrence ergänzt bei Consortium News: „Amerikas politische Eliten sind nicht machtlos, das schurkische israelische Regime zu bändigen: Sie sind machtlos gegen die groteske Lobby, angeführt von, aber nicht beschränkt auf AIPAC, an die sie sich verkauft haben."

Exponenten der israelischen Regierung und viele Juden im Ausland verteidigen sämtliche Missetaten der israelischen Regierung mit dem Argument, dass die Hamas Israel am 7. Oktober 2023 auf grausame Weise überfallen hat. Damals habe alles angefangen. Aber das Hamas-Massaker rechtfertigt keinen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. Und: Eine Schrift des jetzigen israelischen Finanzministers Bezalel Smotrich aus dem Jahr 2017 zeigt: Das aktuelle Vorgehen Israels gegen die Palästinenser war schon seit Jahren überlegt worden.

Die Vorgeschichte des Gaza-Konflikts erklärt einiges. Die Hamas gewann im Gazastreifen im Jahr 2007 demokratische, international überwachte Wahlen. Sie lehnte und lehnt das Existenzrecht eines jüdischen Staates ab. Trotzdem hatte die israelische Regierung die Hamas bereits ab den 1990er Jahren mit Geld und Logistik unterstützt, um zu verhindern, dass die gemässigte Fatah, welche im Westjordanland die Autonomiebehörde führte, auch in Gaza an Macht gewinnt. Bis zum Terroranschlag vom 7. Oktober hat Israel den Ölstaat Katar erlaubt, die Hamas massiv zu unterstützen. Das Motiv: So lange im Gazastreifen eine Terrororganisation regiert, kann Israels Regierung eine international geforderte Zweistaatenlösung ablehnen. Seit dem Wahlsieg der Hamas im Jahr 2007 verwandelte Israel den Gazastreifen in ein Freiluftgefängnis, das trug nicht gerade zu einer Verständigung und Lösung der seit Jahrzehnten schwelenden Konflikte bei.

Netanjahu selbst macht keinen Hehl aus seinem Wunsch, dass Trump im nächsten Monat die Präsidentschaft gewinnt. Er geht davon aus, dass Trump ihm alles geben würde, was er will, wann immer er es will, so wie es Trump 2016 bis 2020 als US-Präsident getan hat. Seinerzeit befürwortete Trump Israel als jüdischen Staat, der das Westjordanland und den Gazastreifen einschließt und der mit seiner palästinensischen Minderheit so umgehen kann, wie er es für richtig hält. Trump hat auch mehrfach seine Bereitschaft bekundet, den Iran anzugreifen und zu zerstören. Auf den jüngsten israelischen Vergeltungsschlag hat er mit den Worten reagiert: „Der Präsident sollte dieses Land in die Luft jagen“.

Biden/Harris unterstützen Israel ebenfalls mit nur geringen Vorbehalten. Seymour Hersh schreibt unter Bezug auf das TV-Duell mit Trumps Vize Vance: „Harris wich in zwei Bereichen nicht von Bidens schrecklicher und gefährlicher Außenpolitik ab: Seine fortgesetzte persönliche und militärische Unterstützung des anhaltenden israelischen Terrors in Gaza und die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine und ihres wahnhaften Präsidenten Volodymyr Zelensky durch seine Regierung in Form von Dollar und Kriegsgütern.“

Biden/Harris halten sich aus Angst vor einer größeren regionalen Eskalation momentan zurück, haben aber versprochen, Teheran an der nuklearen Aufrüstung zu hindern. Netanjahu droht nun damit, die von ihm als iranische Atomanlagen bezeichneten Einrichtungen anzugreifen, während seine Regierung und Biden auch über einen Angriff auf die iranischen Öleinrichtungen diskutieren. Hinhalte-Taktik bis zu den US-Präsidentschaftswahlen…

Israel erhöht seinen Druck auf den Libanon und auch auf Syrien, wo es Ziele bombardiert, die es entweder als „iranisch“ oder „terroristisch-Hisbollah“ einstuft. Netanjahu wird seine Angriffe auf den Libanon und den Gazastreifen verstärken und auch auf den jüngsten Raketenangriff des Iran auf israelisches Gebiet mit einer Eskalation reagieren. Ziel ist es, die USA in den Konflikt hineinzuziehen, damit sie den eigentlichen Kampf zur Vernichtung des Iran führen. Wer wäre für diese Aufgabe besser geeignet als ein Präsident Trump?

Man beachte, dass Israel, selbst wenn es eindeutig der Aggressor ist, immer in der Lage ist, sich als Opfer darzustellen. Geplagt von einer antisemitischen UNO und Feinden überall, kämpft das Land tapfer – nur geschützt in der Stunde der Not durch seinen großen Freund und Verbündeten, die USA. So erklingt es auch in der Ukraine – bedrängt vom feindlichen Russland verteidigt diese mutig die ‚regelbasierte Weltordnung‘ [der Neocons]. Und die westlichen Regierungen, allen voran die der USA, sowie die westlichen Medien singen diese Lieder gerne mit (wenn sie sie nicht selbst erfunden haben).

Wenn das die politische Linie der Netanjahu-Regierung ist und sie einen Trump präfereriert, dann dürfte sie den Konflikt im Nahen Osten vor der US-Präsidentschaftswahl weiter anheizen. Die steigenden Preise an der Zapfsäule helfen den Republikanern. Trump würde sich für eine in der US-Bevölkerung gewünschte Beruhigung im Ukraine-Konflikt stark machen, nur um dann als Präsident alle Kräfte im Krieg gegen den Iran bündeln zu können. Sollen doch die Europäer die Suppe in der Ukraine alleine auslöffeln…

Der US-Präsident kommt in dieser Woche nach Berlin. Was könnte er dort wollen? Eine Verständigung auf eine Initiative zur Beendigung des Ukraine-Kriegs? Oder soll die Freigabe von Langstreckenwaffen beschlossen werden, die es der Ukraine erlaubt, Ziele in Russland anzugreifen? Als taktischer Schritt, um die westliche Position in Verhandlungen mit Russland zu stärken? Oder doch als nächste Eskalationsstufe? Oder soll noch vor der US-Wahl festgezurrt werden, dass die Nato umfangreiche Mittel erhält, um die Ukraine als Frontstaat auszustaffieren (ein vorsorglicher Schritt, an den auch ein Präsident Trump gebunden wäre)?

Viel Raum für eine Oktober-Überraschung!

[Unter Verwendung von Material aus dieser Quelle; anderes ist im Text verlinkt]

Ergänzung
Als Oktober-Überraschung (englisch October Surprise) wird in der amerikanischen Politik eine überraschende Wendung von Geschehnissen unmittelbar vor einer Wahl –meist den stets Anfang November stattfinden Präsidentschaftswahlen– genannt, die maßgeblich zur Beeinflussung der Wahl beitragen kann. Der Begriff kam kurz nach der Präsidentschaftswahl 1972 zwischen dem republikanischen Amtsinhaber Richard Nixon und dem Demokraten George McGovern in Gebrauch, als die USA im vierten Jahr der Friedensverhandlungen im Vietnamkrieg standen. Am 26. Oktober 1972, zwölf Tage vor dem Wahltag, verkündete der amerikanische Verhandlungsführer der Nixon-Regierung, Henry Kissinger: „Der Frieden liegt zum Greifen nahe.“ Nixon konnte in der Folge bei der Wahl einen erdrutschartigen Sieg verbuchen (siehe hier!).

Nachtrag
(8.10.24) Simplicius: „Der Blickwinkel verengt sich immer mehr auf territoriale Zugeständnisse als Endspiel für die Ukraine. Hinter den Kulissen haben alle westlichen Verbündeten der Ukraine begriffen, dass es unmöglich ist, mit Russland zu konkurrieren (…) Ein neuer FT-Artikel beleuchtet diesen Blickwinkel – wichtige Zusammenfassung: Kiev führt geschlossene Gespräche über ein Friedensabkommen, das vorsieht, dass Russland die Kontrolle über die von ihm kontrollierten ukrainischen Gebiete behält, aber seine Souveränität darüber nicht anerkennt, Hinter verschlossenen Türen wird über ein Abkommen gesprochen, bei dem Russland etwa ein Fünftel der Ukraine kontrolliert, obwohl die russische Souveränität nicht anerkannt wird – während der Rest des Landes der NATO beitreten oder gleichwertige Sicherheitsgarantien erhalten kann. Die Veröffentlichung beschreibt ein Szenario, das der Umstrukturierung und Integration Westdeutschlands in die EU während des Kalten Krieges ähnelt.“

(8.10.24) Mehr von Patrick Lawrence bei Consortium News: „Es stimmt, dass Benjamin Netanjahu sich im vergangenen Jahr als außer Kontrolle geratener Soziopath entpuppt hat, und ich halte mich dabei an das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen, das gute alte DSM. Er ist aggressiv, gewalttätig, isoliert, von irrationalen Zwängen getrieben, gleichgültig gegenüber anderen und völlig empathielos. Wenn man sein Gesicht betrachtet, erkennt man die Züge eines verrückten, wahnsinnig gewordenen Mannes. Seit den Ereignissen vom 7. Oktober hat er nahezu ungestraft gehandelt. (…) Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Biden-Regime Einwände gegen Israels Aggression im Libanon erheben wird, eine weitere seiner mutwilligen Provokationen. (…) Die Eliten, die vorgeben, die Vereinigten Staaten zu führen und im Namen der Amerikaner zu sprechen und zu handeln, haben sich in den letzten 11 Monaten voll und ganz an Israels Brutalitäten beteiligt und damit Amerikas Moral und seine Menschlichkeit selbst entwertet – und die Amerikaner in der Tat zu Komplizen von Kriegsverbrechen gemacht.“

(11.10.24) Siehe auch „Das Ende des Judentums“!

(14.10.24) Ex-Präsident Bush Jr. schreibt in seinen Memoiren, die US-Geheimdienste hätten ihn im November 2007 informiert, dass der Iran nicht an einer Atombombe baue (hier).

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