Der US-amerikanische S&P 500 gilt als der globale Leitindex für Aktien. Wie sind seine längerfristigen Aussichten zu beurteilen?
Ed Yardeni hat im Juli sein Jahresendziel für den S&P 500 von 5400 auf 5800 hochgesetzt. Yardeni war lange Jahre in leitender Funktion bei der Deutschen Bank tätig und erstellt seit vielen Jahren im Rahmen von Yardeni Research Inc Analysen für globale Investment-Strategien.
Er schreibt, der Aktienmarkt scheint unser „Roaring 2020s“-Szenario schneller umzusetzen, als wir erwartet haben. Und: „Seit November 2022 gehören wir zu den optimistischsten Anlagestrategen – aber nicht optimistisch genug. Der Bullenmarkt könnte unsere Ziele weiterhin früher als erwartet erreichen.“
Er rechnet ab September mit vier kleinen Zinsschnitten der Fed innerhalb der nächsten 12 Monate. Dabei seien die Zinssenkungen eigentlich nicht nötig. Das GDPNow-Modell der Atlanta Fed sah seinerzeit eine Steigerung des realen BIP im zweiten Quartal von 2,0% voraus [die zweite Schätzung im August ergab ein Plus von drei Prozent]. Zinssenkungen könnten die Kernschmelze anheizen, da in Geldmarktfonds 6,15 Bill. Dollar liegen, so Yardeni (Chartquelle).
Seit der Einführung von ChatGPT durch OpenAI am 30. November 2022 ist es ein dynamischer Bullenmarkt, der von Aktien aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz angeführt wird, heißt es weiter. Yardeni sieht Ähnlichkeiten zwischen der aktuellen Situation und der in den späten 1990er Jahren. So ist die Marktkapitalisierung des S&P 500 Informationstechnologie-Sektors auf 42,4% des S&P 500 angestiegen und hat damit den Spitzenwert von 40,7% im März 2000 übertroffen.
Aber aktuell wird die Entwicklung durch die Erträge besser unterstützt. Zudem ist so viel Geld in kurzfristigen Geldmarktinstrumenten und Bankeinlagen geparkt. Wenn die Fed die Zinssätze senkt, könnte das eine Menge irrationalen Überschwangs auslösen, weil diese Mittel dann nach rentierlicheren Anlagen suchen. Außerdem rechnet er mit einer Verbesserung der Marktbreite, die sich im August auch abzeichnete.
Yardeni bekräftigt außerdem sein Ziel für den S&P 500 von 8.000 Punkten bis zum Ende des Jahrzehnts.
Er sagt zwar nicht, wie er zu einem solchen Ausblick kommt. Wenn man aber das CAGR[1] über die zurückliegenden acht Dekaden von 6,5% nimmt und den Index damit extrapoliert, landet man per Ende 2029 ziemlich genau bei 8.000. Die Gewinne entwickeln sich weniger als halb so schnell, zum Ende der Dekade ergibt sich dann ein KGV von rund 36 (aktuell knapp 29) (Chartquelle).
Die Extrapolation einer vergangenen Entwicklung in die Zukunft führt nur dann zu sinnvollen Ergebnissen, wenn die zugrundeliegenden strukturellen Faktoren sich ebenfalls wie in der Vergangenheit fortentwickeln. Das sind insbesondere Gewinne und Dividenden.
[Analog: Die lineare Fortschreibung der Ergebnisse im 100m-Lauf würde in 500 Jahren vielleicht zu einer Zeit nahe Null Sekunden führen. Das ist offensichtlich unmöglich, weil sich die körperlichen Voraussetzung in dieser Zeitspanne nicht entsprechend entwickeln.]
Nach einer länger zurückliegenden Untersuchung von Vanguard erklärt die Gewinnentwicklung den Kursverlauf zwar am besten, aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle, wie etwa die staatliche Schuldenquote und die Dividendenrendite. Der Dividendenzahlungen einschließende S&P 500 total Return Index kommt denn auch auf ein CAGR von gut zehn Prozent (siehe hier!).
Also ist die Entwicklung der Erträge entscheidend (ich fasse Gewinne und Dividenden zusammen, sie sind zwei Seiten der Untenehmensprofitabilität). [Siehe auch den Nachtrag vom 8.9.24 unten!] Damit stehen die Kosten und v.a. die Arbeits-Produktivität im Fokus. Mit dem KI-Hype wird auf die Steigerung der Produktivität gewettet.
Wenn von zentralen technischen Neuerungen die Rede ist, kommt der Kondratieff-Zyklus ins Spiel. Er wird mit einer Länge von rund sechs Dekaden durch Basis-Innovationen getragen. Ist die KI hier einzuordnen? Wenn ja, würde gerade eine neue lange Welle beginnen. Ich kann das an dieser Stelle nicht abschließend beantworten. Daher hängt für mich gegenwärtig auch das langfristige 8.000-er Kursziel von Yardeni beim S&P 500 in der Luft.
Einen Überblick über die Theorie von Kondratieff finden Sie hier (pdf-Ausschnitt aus "Weltsichten – Weitsichten" von R. Rethfeld und K. Singer, FinanzBuch Verlag).
Unabhängig von den langfristigen Aspekten: Falls die gegenwärtige Phase des KI-Hypes jetzt ausläuft, dürfte sich das kurzfristige Potenzial des S&P 500 vermutlich ebenfalls allmählich erschöpfen – vergleichbar mit der Internet-Phantasie vor 2000. Yardeni hat aber recht, dass die im Geldmarkt geparkten enormen Gelder alsbald neue Anlage suchen, wenn die Zinsen sinken. Eine solche kurzfristige weitere Steigerung des S&P 500 wäre dann aber letztlich als Luftnummer einzuordnen.
Ein Leser schrieb Mitte Juli zum Artikel „S&P 500 – KI-Hype und kein Ende?“, ich würde den Prozess des Blow Off Top verkennen. Die Kursziele lägen beim S&P 500 über 6000 bis max. 7000. Der Crash danach würde umso heftiger ausfallen. Der Einwand ist berechtigt. Danke!
Wenn man die genannten Ziele aus der Charttechnik herzuleiten versucht und als Motivation für den Bull-Run das KI-Thema nimmt, so ergäben sich als Fibonacci-Extensionen der Entwicklung seit Herbst 2022 (Einführung von ChatGPT) Ziele von 6500 (38er), 6750 (50er) und 7000 (62er). Zeitrahmen? Erstes Quartal 2025?
Geparkte Liquidität ist nicht alles – die große Unbekannte ist die Frage, wie rasch eine Rezession näher rückt. Vor den Wahlen zur US-Präsidentschaft wird natürlich versucht, alles hübsch anzumalen. Aber schwarze Schwäne gibt es ja auch noch.
Ergänzung
Marketwatch (Juli 2024): „Dies ist der stärkste Markt, den ich je gesehen habe“, so Bierman, und obwohl er Aktien im Moment nicht nachjagen würde -zum Teil, wie er sagt, weil eine Korrektur überfällig ist-, plant er, die vier Ns so lange zu nutzen, wie sie den Markt antreiben.
Was sind diese vier Ns? Betäubt, neutral, normalisiert und negiert.
Der Aktienmarkt ist jetzt völlig „gefühllos gegenüber allen Nachrichten und Risikodaten“, erklärt Bierman. Das hat auch „die Volatilität neutralisiert – sie steigt nur noch langsam an“. Das dritte N ist „normalisiert“ – der Markt hat sowohl die Inflation als auch den Momentum-Handel normalisiert. Das vierte N ist „negate“, d.h. der Markt „negiert alle Bewertungen“, erklärte er.
Nachtrag
(8.9.24) Crestmont Research: Das KGV bestimmt die Aktien-Rendite. Dies geschieht auf zwei Arten. Erstens beeinflusst das KGV-Niveau die Dividendenrendite – ein hohes KGV führt zu einer niedrigen Dividendenrendite. Zweitens hat das Ausgangsniveau des KGV einen großen Einfluss darauf, ob das KGV über einen Zeitraum von zehn Jahren steigt oder fällt, was die Gesamtrendite erhöht oder schmälert. Die Tendenz zu einem Anstieg ist größer, wenn das KGV niedriger ist. Umgekehrt ist es wahrscheinlicher, dass das KGV von höheren Niveaus aus sinkt (Chartquelle).
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