Wer hat den Ukraine-Krieg verursacht?

Die Frage, wer für den Krieg in der Ukraine verantwortlich ist, ist seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ein umstrittenes Thema. John J. Mearsheimer bringt dazu die wesentlichen Fakten.

Die Antwort ist von enormer Bedeutung, denn der Krieg war aus einer Reihe von Gründen eine Katastrophe, von denen der wichtigste darin besteht, dass die Ukraine praktisch zerstört wurde. Das schreibt er in „Who Caused the Ukraine War?“ Nachfolgend bringe ich eine gekürzte Bearbeitung.

Die Ukraine hat einen großen Teil ihres Territoriums verloren und wird wahrscheinlich noch mehr verlieren, ihre Wirtschaft liegt in Trümmern, eine große Zahl von Ukrainern ist intern vertrieben worden oder aus dem Land geflohen, und sie hat Hunderttausende von Opfern zu beklagen.

Auch Russland hat einen hohen Blutzoll gezahlt. Die Beziehungen zwischen Russland und Europa, ganz zu schweigen von Russland und der Ukraine, sind auf absehbare Zeit vergiftet. Daher besteht die Gefahr eines größeren Krieges in Europa auch dann weiter, wenn der Krieg in der Ukraine zu einem eingefrorenen Konflikt wird.

Die gängige Meinung im Westen, die konventionelle Weisheit, ist, dass Wladimir Putin für die Auslösung des Ukraine-Krieges verantwortlich ist. Die Invasion ziele darauf ab, die gesamte Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil eines größeren Russlands zu machen, so die Argumentation. Ist dieses Ziel erst erreicht, haben die Russen ein Imperium in Osteuropa, ähnlich wie es die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Daher ist Putin letztlich eine Bedrohung für den Westen und muss mit Gewalt bekämpft werden.

Das alternative Argument, mit dem sich Mearsheimer identifiziert, ist im Westen eindeutig in der Minderheit. Es lautet, dass die USA und ihre Verbündeten den Krieg provoziert haben. Russland hat den Krieg begonnen, aber die Hauptursache des Konflikts ist die Entscheidung der NATO, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Die NATO-Erweiterung ist Teil einer westlichen Strategie, die die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenze machen will. Um dieser Bedrohung zu begegnen, hat Russland am 24. Februar 2022 einen Präventivkrieg begonnen.

Putin ist nicht als Imperialist in die Ukraine einmarschiert ist, sondern vor allem wegen der NATO-Erweiterung und der Bemühungen des Westens, die Ukraine zu einer westlichen Hochburg an der Grenze Russlands zu machen. Diese These begründet Mearsheimer im folgenden.

Er schreibt, es gibt einfach keine Beweise aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022, dass Putin die Ukraine erobern und Russland einverleiben wollte. Um das zu beweisen, muss man zeigen, dass er 1) dieses Ziel für erstrebenswert hielt, 2) es für machbar hielt und 3) die Absicht hatte, dieses Ziel zu verfolgen. Die Befürworter der konventionellen Weisheit können in dieser Richtung aber nichts aufzeigen.

Tatsächlich gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Putin die Ukraine als unabhängiges Land anerkannte. In seinem bekannten Artikel vom 12. Juli 2021 über die russisch-ukrainischen Beziehungen, sagt er dem ukrainischen Volk: „Ihr wollt einen eigenen Staat gründen: Ihr seid willkommen!" Und in einer wichtigen Rede am 21. Februar 2022 betonte Putin, Russland akzeptiere „die neue geopolitische Realität, die nach der Auflösung der UdSSR Gestalt angenommen hat".

Am 24. Februar 2022 wiederholte er diesen Punkt ein drittes Mal, als er ankündigte, Russland werde in die Ukraine einmarschieren. Insbesondere erklärte er: „Wir haben nicht vor, ukrainisches Territorium zu besetzen", und machte deutlich, dass er die ukrainische Souveränität respektiere. Er schränkte aber ein: „Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es sich einer ständigen Bedrohung durch das Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt sieht."

Putin hat nicht annähernd genug Truppen, um die Ukraine zu erobern. Mearsheimer schätzt, dass die Russen mit höchstens 190.000 Mann in die Ukraine einmarschiert sind. General Oleksandr Syrskyi, der derzeitige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sagte kürzlich in einem Interview mit The Guardian, dass die russische Invasionstruppe nur 100.000 Mann stark war. Es ist unmöglich, dass eine Truppe von 100.000 oder 190.000 Mann die gesamte Ukraine erobern, besetzen und in ein größeres Russland einzugliedern.

Die russische Armee ist für eine Großoffensive zur Eroberung der gesamten Ukraine, geschweige denn zur Bedrohung des übrigen Europas, nicht gerüstet. Abgesehen davon würde ein Einmarsch in östliche Mitgliedsländer der Nato ziemlicher Sicherheit einen Krieg mit den USA und ihren Verbündeten bedeuten. Sowohl qualitativ als auch quantitativ ist die russische Invasionstruppe nicht annähernd mit der Wehrmacht der späten 1930er und frühen 1940er Jahre vergleichbar.

In den Monaten vor Kriegsbeginn versuchte Putin, eine diplomatische Lösung für die sich anbahnende Krise zu finden. Am 17. Dezember 2021 sandte Putin einen Brief an Präsident Joe Biden und NATO-Chef Stoltenberg, in dem er eine Lösung der Krise auf der Grundlage einer schriftlichen Garantie vorschlug, dass: 1) die Ukraine nicht der NATO beitritt, 2) keine Offensivwaffen in der Nähe der russischen Grenzen stationiert werden und 3) die seit 1997 nach Osteuropa verlegten NATO-Truppen und -Ausrüstungen wieder nach Westeuropa verlegt werden. Putins Vorstoß zeigt, dass er einen Krieg vermeiden wollte, die USA lehnten Gespräche darüber ab.

Unmittelbar nach Beginn des Krieges nahm Russland Verhandlungen mit der Ukraine auf, um den Krieg zu beenden und einen Modus vivendi zwischen den beiden Ländern zu finden. Die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau begannen vier Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Alles deutete darauf hin, dass Russland ernsthaft verhandelte und nicht an der Übernahme ukrainischen Territoriums interessiert war, mit Ausnahme der Krim, die es 2014 annektiert hatte, und möglicherweise des Donbass. Darüber hinaus berichtet Putin, dass er gebeten wurde, als Geste des guten Willens die russischen Truppen aus dem Gebiet um Kiew abzuziehen. Das geschah am 29. März 2022. Schließlich verließen die Ukrainer auf Drängen Großbritanniens und der USA die weit fortgeschrittenen Verhandlungen.

Als Putin im Jahr 2000 die Macht übernahm, hatte kaum jemand im Westen behauptet, dass Putin imperiale Ambitionen hat. Aber als die Ukraine-Krise am 22. Februar 2014 begann, wurde er plötzlich zu einem imperialen Aggressor. Dieser abrupte Wechsel in der Rhetorik diente vor allem einem Zweck, dem Westen die Möglichkeit zu geben, Putin die Schuld an der Krise zu geben und den Westen von der Verantwortung freizusprechen.

Der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, ein entschiedener Verfechter der Ukraine und scharfer Kritiker Putins, stellt bezeichnenderweise fest, dass die Einnahme der Krim durch Russland im Jahr 2014 vor Ausbruch der Krise nicht geplant war, sondern eine impulsive Reaktion auf den Putsch, durch den der pro-russische Führer der Ukraine gestürzt wurde. Kurz gesagt, die NATO-Erweiterung vor dem 22. Februar 2014 war nicht dazu gedacht, eine russische Bedrohung einzudämmen, weil der Westen nicht glaubte, dass es eine solche gab.

Eine andere Variante der gängigen Meinung argumentiert, die Entscheidung Moskaus, in die Ukraine einzumarschieren, habe wenig mit Putin selbst zu tun hat und sei stattdessen Teil einer expansionistischen Tradition ist, die tief in der russischen Gesellschaft verwurzelt ist. Es ist fast so, als ob es in ihrer DNA läge. Die gleiche Behauptung wurde einst über die Deutschen aufgestellt, die im zwanzigsten Jahrhundert oft als angeborene Aggressoren dargestellt wurden.

Zwischen 1991 und 2014, als die Ukraine-Krise ausbrach, hat kaum jemand in den USA oder Westeuropa Russland als von Natur aus aggressiv bezeichnet. Außerhalb Polens und der baltischen Staaten war die Angst vor einer russischen Aggression in diesen vierundzwanzig Jahren keine häufig geäußerte Sorge, was man erwarten würde, wenn die Russen auf Aggression eingestellt wären. Das plötzliche Auftauchen dieser Argumentation ist eine bequeme Ausrede, um Russland die Schuld für den Ukraine-Krieg zu geben.

Mearsheimer kommt mit den vorgetragenen Argumenten zu dem Schluss, dass es auf Seiten Russlands keine imperialistischen Ambitionen gibt, die Ukraine zu erobern. Er nennt im folgenden die drei Hauptgründe dafür, dass die NATO-Erweiterung die Hauptursache für den Ukraine-Krieg ist.

Erstens: Die russische Führung hat vor Beginn des Krieges wiederholt erklärt, dass sie die NATO-Erweiterung in der Ukraine als eine existenzielle Bedrohung ansieht, die beseitigt werden muss. Putin gab vor dem 24. Februar 2022 zahlreiche öffentliche Erklärungen ab, in denen er diese Argumentationslinie darlegte. In einer Rede vor dem Vorstand des Verteidigungsministeriums am 21. Dezember 2021 erklärte er: „Was sie in der Ukraine tun oder zu tun versuchen oder planen, geschieht nicht Tausende von Kilometern entfernt von unserer Landesgrenze. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. (…) glauben sie, dass wir tatenlos zusehen werden, wie Bedrohungen für Russland entstehen?“

Zwei Monate später, auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 2022, nur wenige Tage vor Kriegsbeginn, sagte Putin: „Wir sind kategorisch dagegen, dass die Ukraine der NATO beitritt, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt, und wir haben Argumente, die dies unterstützen." Dann machte er deutlich, dass er anerkenne, dass die Ukraine ein Defacto-Mitglied der NATO wird. Die USA und ihre Verbündeten, sagte er, „pumpen die derzeitigen Kiewer Behörden weiterhin mit modernen Waffentypen voll". Wenn dies nicht gestoppt werde, würde Moskau mit einem bis an die Zähne bewaffneten 'Anti-Russland' dastehen. „Das ist völlig inakzeptabel".

Auch andere führende russische Politiker betonten die zentrale Bedeutung der NATO-Erweiterung für die Ukraine-Krise. Außenminister Sergej Lawrow brachte es auf einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 auf den Punkt: „Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass die NATO nicht nach Osten expandieren wird."

Oft hört man das Argument, die russischen Befürchtungen seien unbegründet, weil die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Daher kann die NATO-Erweiterung weder eine Ursache für die ursprüngliche Krise, die im Februar 2014 ausbrach, noch für den Krieg, der im Februar 2022 begann, gewesen sein.

Diese Argumentation ist falsch. Die westliche Reaktion auf die Ereignisse von 2014 bestand vielmehr darin, die bestehende Strategie zu verdoppeln und die Ukraine noch enger an die NATO zu binden. Das Bündnis begann 2014 mit der Ausbildung des ukrainischen Militärs und stellte in den folgenden acht Jahren durchschnittlich 10.000 ausgebildete Soldaten pro Jahr zur Verfügung. Im Dezember 2017 beschloss die Trump-Administration, Kiew mit „Verteidigungswaffen" auszustatten. Andere NATO-Länder schlossen sich dem bald an und lieferten noch mehr Waffen an die Ukraine. Darüber hinaus begannen die ukrainische Armee, Marine und Luftwaffe mit der Teilnahme an gemeinsamen Militärübungen mit NATO-Streitkräften. Die Bemühungen des Westens, das ukrainische Militär zu bewaffnen und auszubilden, erklären zu einem guten Teil, warum es im ersten Jahr des Krieges so gut gegen die russische Armee abschnitt. In einer Schlagzeile des Wall Street Journal vom April 2022 heißt es: „Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahrelange NATO-Ausbildung".

2021 gab es im Westen eine neue Begeisterung für die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Gleichzeitig vollzog Präsident Zelensky, der im März 2019 auf einer Plattform gewählt wurde, die zur Zusammenarbeit mit Russland bei der Beilegung der anhaltenden Krise aufrief, Anfang 2021 einen Kurswechsel und befürwortete nicht nur die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern vertrat auch eine harte Linie gegenüber Moskau.

Es überrascht nicht, dass die NATO am 14. Juni 2021 auf ihrem Jahresgipfel in Brüssel ein Kommuniqué veröffentlichte, in dem es hieß: „Wir bekräftigen den auf dem Bukarester Gipfel 2008 gefassten Beschluss, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird". Am 1. September 2021 besuchte Zelensky das Weiße Haus, wo Biden klarstellte, dass die Vereinigten Staaten „fest entschlossen" seien, „die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen". Am 10. November 2021 unterzeichneten Außenminister Antony Biden und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba ein wichtiges Dokument – die „Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine". Das Ziel beider Parteien, so heißt es in dem Dokument, ist es, „das Engagement für die Durchführung tiefgreifender und umfassender Reformen in der Ukraine zu unterstreichen, die für eine vollständige Integration in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen erforderlich sind." Es bekräftigt auch ausdrücklich das Engagement der USA für die Bukarester Gipfelerklärung von 2008.

Mearsheimer: Es steht außer Frage, dass Moskau den Beitritt der Ukraine zur NATO als existenzielle Bedrohung ansah, die nicht hingenommen werden durfte.

Zweitens erkannte eine beträchtliche Anzahl einflussreicher und hoch angesehener Persönlichkeiten im Westen bereits vor dem Krieg, dass die NATO-Erweiterung – insbesondere in der Ukraine – von der russischen Führung als tödliche Bedrohung angesehen werden und schließlich zur Katastrophe führen würde.

William Burns, der heute der CIA vorsteht, aber zum Zeitpunkt des NATO-Gipfels in Bukarest im April 2008 US-Botschafter in Moskau war, verfasste ein Memo an die damalige Außenministerin Condoleezza Rice, das die russischen Überlegungen zur Aufnahme der Ukraine in das Bündnis kurz und bündig beschreibt. „Der Beitritt der Ukraine zur NATO", so schrieb er, "ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunklen Nischen des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern, habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen." Die NATO, so sagte er, „würde als ein strategischer Fehdehandschuh angesehen werden. Das Russland von heute wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen würden tiefgekühlt… Das würde einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen."

Burns war 2008 nicht der einzige westliche Politiker, der erkannte, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO mit Gefahren verbunden war. Auf dem Bukarester Gipfel sprachen sich sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus, weil sie wussten, dass dies Russland alarmieren und verärgern würde. Merkel erklärte kürzlich ihre Ablehnung: „Ich war mir sehr sicher, … dass Putin das nicht einfach zulassen wird. Aus seiner Sicht wäre das eine Kriegserklärung."

Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Zahlreiche amerikanische Politiker und Strategen waren in den 1990er Jahren, als die NATO-Erweiterung in Richtung Osten zur Debatte stand, gegen Präsident Clintons Entscheidung. Diesen Gegnern war von Anfang an klar, dass die russische Führung darin eine Bedrohung ihrer lebenswichtigen Interessen sehen würde und dass diese Politik letztlich zu einer Katastrophe führen würde. Zu den Gegnern gehören prominente Persönlichkeiten des Establishments wie George Kennan, William Perry, der Verteidigungsminister von Präsident Clinton, und General John Schalikaschwili, der Vorsitzende der Stabschefs, Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen.

Die Logik von Putins Position sollte den Amerikanern vollkommen einleuchten, die seit langem der Monroe-Doktrin verpflichtet sind, die besagt, dass keine entfernte Großmacht ein Bündnis mit einem Land in der westlichen Hemisphäre eingehen und ihre militärischen Streitkräfte dort stationieren darf. Die USA würden einen solchen Schritt als existenzielle Bedrohung auffassen und alles tun, um diese Gefahr zu beseitigen. Dies geschah natürlich auch während der Kubakrise 1962, als Präsident Kennedy den Sowjets klar machte, dass ihre Atomraketen aus Kuba abgezogen werden müssten. Putin ist zutiefst von derselben Logik beeinflusst. Schließlich wollen Großmächte nicht, dass sich entfernte Großmächte in ihrem Hinterhof ansiedeln.

Drittens wird die zentrale Bedeutung der tiefen Angst Russlands vor einem NATO-Beitritt der Ukraine durch Entwicklungen deutlich, die seit Beginn des Krieges stattgefunden haben.

Während der Istanbuler Verhandlungen, die unmittelbar nach Beginn der Invasion stattfanden, machten die Russen unmissverständlich klar, dass die Ukraine „ständige Neutralität" akzeptieren müsse und der NATO nicht beitreten könne. Die Ukrainer akzeptierten die russische Forderung ohne ernsthaften Widerstand, sicherlich weil sie wussten, dass es sonst unmöglich war, den Krieg zu beenden. Wie oben dargestellt, lehnte die westliche Seite das Ergebnis der weit gediehenen Istanbuler Verhandlungen ab.

In jüngerer Zeit, am 14. Juni 2024, stellte Putin zwei Forderungen auf, die die Ukraine erfüllen müsse, bevor er einem Waffenstillstand und der Aufnahme von Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zustimmen würde. Eine dieser Forderungen war, dass Kiew „offiziell" erklärt, „dass es seine Pläne, der NATO beizutreten, aufgibt".

Aus Russlands Verhandlungsposition in Istanbul sowie aus Putins Äußerungen zur Beendigung des Krieges in seiner Rede vom 14. Juni 2024 geht hervor, dass er nicht daran interessiert ist, die gesamte Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil eines größeren Russlands zu machen.

Das alles ist nicht überraschend, denn Russland hat eine Ukraine in der NATO immer als existenzielle Bedrohung gesehen, die um jeden Preis verhindert werden muss. Diese Logik ist die treibende Kraft hinter dem Ukraine-Krieg, so Mearsheimer.

Wer ist John J. Mearsheimer?
John Joseph Mearsheimer ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler an der University of Chicago. Sein Schwerpunkt ist die Analyse internationaler Beziehungen. Für Mearsheimer liegt das Hauptgewicht einer solchen Analyse nicht auf Persönlichkeitsmerkmalen von Politikern und dergleichen, sondern auf der fundamentalen Konkurrenz aller Großmächte im Streben nach größtmöglicher Sicherheit und Hegemonie innerhalb des anarchischen internationalen Systems.

Nachtrag
(12.8.24) Die verfehlte Sicht und der unterdrückte Jubel des Hernn G.F. in „The New Reality in the Ukraine War“: „Russland ist 2022 in die Ukraine einmarschiert, um einen möglichen Angriffsweg der NATO zu blockieren, wie Moskau glaubte. Moskau hielt die Ukraine für schwach und gespalten und kam zu dem Schluss, dass eine Invasion die ukrainischen Streitkräfte schnell zerstören und eine russische Besetzung ermöglichen würde. Die Zeit war von entscheidender Bedeutung. Jede Minute, die sich der Krieg hinzog, war eine Minute, in der die USA oder die NATO eingreifen konnten. Die Regierung rechnete nicht mit einem langen und kostspieligen Krieg und plante ihn daher auch nicht ein, und seitdem zahlt sie für ihren Fehler. Dennoch glaubte Russland, noch immer einen wichtigen Vorteil zu haben: Es beherrschte die Schlachtfelder. Wenn Moskau schon nicht die strategischen Aspekte des Krieges kontrollieren konnte, so doch zumindest die taktischen. Auf diese Weise konnte es die ukrainischen Streitkräfte in der Defensive halten – bis letzte Woche, als die Ukraine in die Oblast Kursk einmarschierte.“

(13.11.24) Ukraine-Krieg: Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe – „Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto eher besteht die Gefahr, dass sich daraus ein dritter Weltkrieg entwickelt, in dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten. Deshalb muss der Ukraine-Krieg so schnell wie möglich durch einen Waffenstillstand und danach auf diplomatischem Wege durch einen Friedensvertrag beendet werden, bevor die Welt in ein Chaos gestürzt wird. (…) Anmerkung der Redaktion Globalbridge: Diese ganze Geschichte scheint den neuen Kandidaten der CDU für das Kanzler-Amt, Friedrich Merz, nicht zu interessieren. In einem Gespräch mit der deutschen Zeitschrift «Stern» kündigte er an, Moskau ein Ultimatum zu stellen und bei Nicht-Eintreten Moskaus sofort Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern, ohne jede Begrenzung für den Einsatz gegen Ziele in Russland. Das kommt in Russland naturgemäß nicht gut an. Wenn Deutschland Krieg wolle, sollen sie ihn haben, ist die Antwort aus Russland.“
Umfassender Artikel zu den Hintergründen des Ukraine-Kriegs mit Blick auf die Kuba-Krise und den Nato-Doppelbeschluss.

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