Der S&P 500 und die verrückte Rezession

Im Juli wurden in den USA weitere 528.000 Arbeitsplätze (nonfarm) geschaffen. Die Akteure an den Finanzmärkten hatten lediglich 250.000 neue Stellen erwartet (bzw. erhofft). Zusätzlich gab es mit 28.000 positive Korrekturen für die Vormonate.

Die Arbeitslosenquote sank auf 3,5% und erreichte damit den Tiefstand von 2019, der zugleich der niedrigste seit den 1950er Jahren ist. Während die Löhne stärker als erwartet stiegen, sank die Erwerbsquote in der kritischen Altersgruppe der 25- bis 54-jährigen.

Die US-Wirtschaft befindet sich mit einem zwei Quartalen in Folge schrumpfendem BIP in einer (technischen) Rezession. Ein starker Arbeitsmarkt ist nicht unbedingt das, was man mit einer Rezession in Verbindung bringt. Aber: Nach der Rezession von 2008/2009 gab es zunächst eine mehrjährige Erholung bei anhaltend schwachem Arbeitsmarkt. Warum sollte es also nicht auch mal eine Rezession mit starkem Arbeitsmarkt geben? Argumente dafür gäbe es – die Generation der „Babyboomer“ geht in Rente, es folgen mit den nachfolgenden Jahrgängen nicht genügend Arbeitskräfte nach. (Manch einer behauptet auch, „Long Covid“ halte bis zu vier Millionen Arbeiter und Angestellte auf der Seitenlinie. Wer es glaubt…)

Die Erwerbsquote hat sich nach „Corona“ unterschiedlich entwickelt. Bei den höheren Einkommen (mit geringeren Konsumquoten) hat sie zugelegt, bei den niedrigeren nimmt sie ab (Chartquelle).

Die tatsächlich gegebene abnehmende Verfügbarkeit von Arbeitskräften kann natürlich ein Grund sein, Wachstum in der Wirtschaft abzubremsen. Gleichzeitig wirken Lohnsteigerungen dagegen. Wird dadurch eine Rezession begründet? Wenig wahrscheinlich.

Ein lokales Minimum bei der Arbeitslosenquote ist stets ein Vorläufer von Rezessionen, wie der folgende Chart zeigt. Und viele Beobachter sagen, Überaktivitäten in der Realwirtschaft sind der wichtigste Auslöser von Rezessionen: Es werden mehr Arbeitskräfte gesucht als vorhanden sind, die Löhne steigen, die kaufkräftige Nachfrage steigt, die Preise steigen – ab einem bestimmten Punkt kippt das Ganze (Chartquelle).

Die Stärke des Arbeitsmarktes schlägt sich auch markant im „real-time-BIP“ nieder. Zumindest seit 1980 startete eine Rezession noch nie, wenn die jährliche Veränderung dieses Produkts aus Zahl der Arbeitsplätze und Wochenarbeitszeit (blau) höher lag als die des realen BIP (rot) (Chartquelle).

Der MIT-Volkswirt Rudi Dornbusch sah 1998 das Zustandekommen einer Rezession völlig anders, als er schrieb, keine der US-Expansionen in den zurückliegenden 40 Jahren sei an Altersschwäche gestorben, jede sei durch die Fed umgebracht worden. Das Motiv für diesen „Mord“ sei in der Regel, die Wirtschaft vor einer beginnenden Inflation zu retten (siehe auch hier!).

Ich stimme dem zu – mit dem „kleinen“ Unterschied, dass die Fed Rezessionen in den zurückliegenden Dekaden eher dadurch verursacht hat, dass sie am Beginn eines Konjunkturzyklus, am Ausgang einer Rezession, eine viel zu expansive Geldpolitik betrieben hat (siehe hier!). Dies gilt insbesondere, seitdem Greenspan 1987 Fed-Chef wurde – ab da an wurde jede noch so kleine Krise in Liquidität ertränkt. Das führte dazu, dass immer mehr große Zombie-Unternehmen durch die Wirtschaft geistern, die ohne Geldflut nicht existieren könnten.

Die Fragilität der Wirtschaft ist natürlich auch ein Grund dafür, warum die Akteure an den Finanz-Märkten hinsichtlich Geldpolitik so „sensibel“ sind. Und „Zinsangst“ ist auch ein Grund dafür, warum der Aktienindex S&P 500 nach der Veröffentlichung der US-Arbeitsmarktdaten für Juli am zurückliegenden Freitag schwach eröffnete und intraday bis 1,1% gegenüber dem Schlusskurs des Vortags verlor. Dann berappelte er sich und schloss knapp behauptet bei 4145,19 mit einem Wochengewinn von 0,4%. In den Tagen zuvor hatte man noch die Hoffnung gepflegt, die Phase der Leitzinserhöhungen werde bald auslaufen. Die bekam mit dem neuerlich starken Arbeitsmarkt einen Dämpfer.

Die charttechnische Situation ist gegenüber der Vorwoche wenig verändert. Der Index notiert in einer harten Widerstandszone bei 4160. S&P 500 und der „Angstmesser“ an Wall Street, VIX, laufen in den zurückliegenden Tagen weniger (invertiert) synchron. Das ist ein erstes Zeichen für eine möglicherweise bevorstehende Instabilität. Der Spread der Volatilitäten von S&P 500 und VIX befindet sich in einem unteren Extrembereich.

Damit nimmt die Wahrscheinlichkeit für einen Volatilitätsausbruch zu. Die spannende Frage ist: Geht der nach unten oder nach oben?

Mit Blick auf die fraktalen Oszillatoren der TimePatternAnalysis zeigt sich, dass Aktien insgesamt stark angespannt bullisch sind. Die Ähnlichkeit der Kursverläufe mit linearen Strukturen (oberer Chart) ist mit 79% (rot) sehr hoch.

Der Bereich bei 80% stellt ein historisches Maximum dar, das in 20 Jahren noch nie für mehr als zwei, drei Tage überschritten wurde. Der Anteil der bärischen Kursmuster hat noch etwas Luft nach unten (gelb – aktuell 6%), der Anteil der bullischen Muster (grün – aktuell 73%) hat noch etwas Spielraum bis zur roten Linie. Die rote Linie der Ähnlichkeit zu linearen Strukturen kann man auch als guten Stellvertreter für Kapitalfluss ansehen (der Chart wird täglich auf der Startseite aktualisiert).

Der aus den bekannten technischen Indikatoren Stochastik, MACD und RSI gebildete TQUAL-Indikator ist mittlerweile extrem bullisch so wie seit mindestens zwei Jahren nicht. Die Volumenverteilung befindet sich in Akkumulation, sie ist mittlerweile leicht überdehnt.

Kann sich der S&P 500 vor diesem technischen Hintergrund oberhalb der Zone von 4160 festsetzen und insbesondere auch die EMA200 (4186 waagerecht) überwinden? Denkbar, dass die bullische Dynamik dafür noch ausreicht. Dann allerdings dürfte der Schub (vorerst) zu Ende gehen. Bei 4262 liegt das 62er-Retracement des Abwärtsimpulses aus Ende März. An der Unterseite, womöglich verbunden mit einem Fehlausbruch, wäre auf die Pegel bei 3978 und 3926 zu achten (Chartquelle).

Was ist wahrscheinlich? Eine Konsolidierung zwischen rund 4000 und rund 4200.

Nachtrag:
Zerohedge zeigt auf, dass seit März zwischen den Haushalts- und Betriebserhebungen, aus denen sich der monatliche Beschäftigungsbericht der USA zusammensetzt, eine starke Divergenz entstanden ist. Die Betriebserhebung zeigt in diesem Zeitraum einen Zuwachs von 1,68 Millionen Arbeitsplätzen auf 152,536 Millionen per Juli, während die Haushaltserhebung einen Beschäftigungsverlust von 168.000 ausweist. Das ist eine Lücke von mehr als 1,8 Millionen.
Während seit März 2022 nach Haushaltserhebung die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze wie auch die der Teilzeit-Stellen sinkt, legt die Zahl der Mehrfachbeschäftigten im selben Zeitraum mit plus 263.000 auf 7,633 Millionen zu (+3,6%) und erreicht damit ein nach-Covid-Hoch. 4,8% aller Beschäftigten haben im Juli mehr als einen Job. Hinzu kommt, dass die Zahl der Mehrfachbeschäftigten mit zwei Vollzeit-Stellen ein Rekordhoch erreicht hat.
Ein starker Arbeitsmarkt, der es erlauben würde, Stellen aus freien Stücken zu wechseln, sieht anders aus.
Zerohedge bietet als Erklärung für die Diskrepanzen an, dass deren "Realisierung" kurz nach den Zwischenwahlen eintreten wird, denn das Letzte, was sich die Regierung Biden leisten kann, ist zuzugeben, dass der Arbeitsmarkt zusätzlich zum anhaltenden Anstieg der Inflation zusammenbricht.
(9.8.22) Es gibt einen weiteren Anlass, an dem Arbeitsmarktbericht zu zweifeln: Die saisonalen Anpassungen waren für Juli 2021 negativ (-65.000), für Juli 2022 waren sie positiv (+287.000). Das soll mal einer erklären… Zusammen genommen sind im Vergleich der beiden Juli-Monate 352.000 Arbeitsplätze neu entstanden. Wo? In der Realwirtschaft?

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