Charlie Hebdo…

Bei einem Anschlag auf die Redaktion des bekannten französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ sind 12 Menschen getötet worden. Es wird (mehr als) vermutet, dass die Tat einen islamistischen Hintergrund hat.

Angst vor weiteren Attentaten mischt sich mit Forderungen, härter gegen mögliche weitere Täter vorzugehen. Die Chefin der rechten Front National fordert schon die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Partei ist längst keine Splitterpartei mehr. Die konservative Zeitung "Le Figaro" titelt: "Wir sind im Krieg“. "Unsere erste Pflicht im Krieg ist Einigkeit. Die zweite Pflicht ist es, uns zu bewaffnen", heißt es. Es sei Zeit, den "verdrehten Humanismus und Anti-Rassismus" abzulegen.

Die linke "Libération" mahnt hingegen zur Mäßigung. "Wir müssen das Prinzip der Freiheit respektieren, um die Freiheit zu verteidigen." "Wir müssen die Kriminellen unerbittlich verfolgen, sie festnehmen und vor ein normales Gericht stellen, wo sie ihre verdiente Strafe bekommen werden – nicht mehr und nicht weniger."

Ein zentraler Punkt unserer westlichen Kultur ist Toleranz, Freiheit des Glaubens und die Bereitschaft, Konflikte im Innenverhältnis der Gesellschaft ohne körperliche Gewalt zu lösen. So steht es auf dem Papier. Wir haben mittlerweile einigermassen gelernt, dies umzusetzen. Einigermassen…

Es ist aber noch nicht allzu lange her, dass Kirchenvertreter in den beiden Weltkriegen auf europäischem Boden Waffen gesegnet und mehr oder weniger deutlich Kriegshetze betrieben haben. Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, je offener wurde Gewalt im Namen des christlichen Glaubens ausgeübt.

Jetzt wird geheult, im Namen keiner anderen Religion seien in den vergangenen 15 Jahren derart barbarische Taten begangen worden. Das stimmt vermutlich, aber es trifft den Kern der Sache nicht.

Ich kenne den Islam nicht gut, habe den Koran nicht gelesen. Die Bibel kenne ich auch nur rudimentär, weiß immerhin: Das Alte Testament ist nicht gerade ein Märchenbuch für Kleinkinder…

Greueltaten wurden und werden im Namen jeder herrschenden Ideologie vollbracht. Das kann eine Religion sein oder der Glaube an eine völkische Überlegenheit, der Glaube an den Mammon oder was auch immer. Vordergründig geht es um die Ideologie, sie ist aber tatsächlich Werkzeug der Macht, in aller Regel wirtschaftlicher Macht.

Die westliche Welt hat seit Jahrzehnten massiv in die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Nahen Osten eingegriffen. Das Thema: Öl, der Treibstoff unserer Wirtschaft. Diese Eingriffe haben auf Basis der dort vorherrschenden feudalen Strukturen für eine extrem ungleiche Vermögensverteilung gesorgt. Wenigen Superreichen steht ein Heer von Minderbemittelten gegenüber. Die Massenmedien zeigen, wie man im Westen lebt. Durch die herrschenden sozialen Verhältnisse haben nur wenige die Möglichkeit einer halbwegs vernünftigen Ausbildung. Aussichtslosigkeit macht sich breit, auf Verzweiflung folgt Wut. Das macht empfänglich für ideologische „Einflüsterungen“.

Die herrschenden Kreise dieser Gesellschaften haben ein massives Interesse daran, dass sich diese Wut nicht gegen sie richtet. Dass die ideologischen „Einflüsterungen“ gespeist werden von Gedankengut, das mit dem Islam in Verbindung steht, sehe ich letztlich als historischen Zufall an, weil er die zurzeit dort herrschende Religion ist. In einem anderen Kontext hätte es auch das Christentum sein können…

Solche Attentate wie das in Paris sind durch nichts zu rechtfertigen. Aus meiner Sicht liegt aber ein wesentlicher Punkt der Erklärung des Phänomens solcher Anschläge in dem beschriebenen Zusammenhang – und so sind die Gesellschaften des Westens dabei nicht ganz unbeteiligt.

Solche Taten wie die in Paris fördern das Aufkommen rassistischer Vorbehalte. Unsere reiche Gesellschaft hat aber eine besondere Verpflichtung (und die Möglichkeit), in ihrer Heimat verfolgte Menschen aufzunehmen. Die Vielfalt, die Menschen aus anderen Ländern und Kulturen hierher bringen, sollte uns ein hohes Gut sein.

Wir haben Anspruch darauf, dass sich alle, die zu uns kommen, an die Regeln und Grundwerte unserer Gesellschaft halten und die Sprache hier lernen. Hier ist in der Vergangenheit sicher gelegentlich Toleranz mit Laissez-faire verwechselt worden.

Es dürfte nicht allzu viel Zeit ins Land gehen, bis die ersten Politiker auch hierzulande solche Anschläge als Vorwand nehmen, um erneut an der Schraube der Grundrechte zu drehen. Schließlich ist die Terrorabwehr ja wichtiger als die bürgerliche Freiheit… Fragt sich, für wen…

Wenn Kleinbürger aus Angst vor Deklassierung gegen die sogenannte Überfremdung auf die Strasse gehen, erinnert das fatal an die soziale Basis und die Ideologie der Nationalsozialisten. Und wenn Parteien versuchen, in diesen Gewässern zu fischen, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie in eine ähnliche Ecke gerückt werden.

Quelle – man beachte das Wortspiel "draw" = zeichnen, bzw. ziehen

Ergänzung:
Portraits der bei dem Anschlag Getöteten finden Sie hier (englisch).

Nachträge:
(12.1.15) Oliver Kalkofe: "Manchmal weiß man wirklich nicht, was man noch sagen oder schreiben soll, weil man die Welt, in der man lebt, so einfach nicht mehr mag oder versteht," sagt der Schauspieler, Komiker, Kabarettist, Satiriker, Parodist und Kolumnist. Und dann findet er doch die richtigen Worte zum Terroranschlag auf "Charlie Hebdo" (h/t N.T.):



(18.1.15) Einer der weltweit größten Verlage für Bildungsliteratur, Oxford University Press, hat seine Autoren aufgefordert, in ihren Büchern den Begriff “Schwein” zu vermeiden, sowie alles, was damit in Verbindung gebracht werden könnte. Als Grund wird angegeben, dass dadurch die Gefühle von Moslems und Juden verletzt werden könnten [h/t T.J.]. Der Verlag hat die Meldung in einer Stellungnahme zwar relativiert, aber nicht vollständig dementiert.

(23.1.15) Irgendwo im Internet habe ich gelesen: "Das einzige Recht, das wir in einer liberalen Demokratie nicht haben dürfen, ist das Recht, nicht angegriffen oder gekränkt zu werden."

Bewertung: 2.3/5
Please wait...