Jetzt hat auch Hessen (ab-)gewählt

Nun ist der Reigen der Landtagswahlen in diesem Jahr mit der Wahl in Hessen zu Ende gegangen. Mehr davon im nächsten Jahr. Die mit der zurückliegenden Bundestagswahl eingeläutete Entwicklung geht munter weiter.

Die beiden großen (ehemaligen) Volksparteien CDU/CSU und SPD fahren in ihren Wahlerergebnissen immer schlechtere Werte ein, andere Kräfte, allen voran die „Grünen“, machen Punkte gut. Die AfD ist mittlerweile in allen Länderparlamenten vertreten, und, ja, auch die „Linke“ kann ein wenig Boden gut machen. Die Zahl der in den Parlamenten vertretenen Parteien nimmt überall zu.

In den Medien ist viel davon die Rede, dass die Parteien der Großen Koalition Vertrauen verspielt hätten. Zur Begründung wird wahlweise auf Seehofer, auf das Scheitern der Jamaika-Versuche auf Bundesebene, auf die Grenzöffnung von Merkel im Jahre 2015/2016 oder manchmal auch darauf verwiesen, dass es uns zu gut gehe.

Die Sammlung von Anlässen kann man unendlich fortsetzen. Anlässe ergeben sich aus Ursachen und verstärken die zugrunde liegenden Ursachen. Es stimmt, die großen Parteien haben Vertrauen verspielt. Das liegt aber nicht zuerst daran, dass sie taktische Fehler gemacht haben. Umgekehrt wird ein Schuh daraus – die taktischen Fehler wurden und werden gemacht, weil diese Kräfte merken, dass ihnen die Felle, resp. die Pfründe, wegschwimmen.

Der jüngste taktische Fehler der CDU bestand in der Ankündigung vor der hessischen Landtagswahl, die gesetzlichen Grenzen von Schadstoffkonzentrationen in der Luft lockern zu wollen, um so Fahrverbote in großen Städten zu verhindern. Dieses „Vorhaben“ war so durchsichtig auf den hessischen Wahlkampf, resp. Frankfurt, gemünzt, dass man sich … eigentlich nichts mehr fragen muss (siehe hier!).

Die Ursache für die abnehmende Akzeptanz der „Volksparteien“ liegt darin begründet, dass die breite Masse nicht länger politisch amorph und per Saldo politisch neutral ist. Hannah Arendt hat in den frühen 1950er Jahren geschrieben, eine demokratische Verfassung ist auf die schweigende Duldung der politisch inaktiven Elemente in der Bevölkerung angewiesen (siehe hier!). Wir erleben genau das jetzt wieder, was Arendt in der Analyse des Aufkommens der Hitler-Diktatur seinerzeit entwickelt hat.

Auch damals, Ende der 1920er Jahre, verbreiterte sich das Parteienspektrum, die großen Parteien verloren an Zuspruch. Sie offenbarten nach und nach ihre Unfähigkeit, tragfähige Lösungen für die breite Masse der Bevölkerung zu entwickeln und umzusetzen. Die NSDAP spielte zunächst nur eine untergeordnete Rolle, wusste aber die Situation geschickt zu nutzen (auch mit finanzieller Unterstützung eines Teils des internationalen Groß- und Finanzkapitals) (siehe hier!). Nicht wenige Wähler wählten diese Partei schließlich, meistens nicht einmal aus wirklicher NS-Überzeugung, sondern, um den etablierten politischen Kräften einen Denkzettel zu verpassen. Der Denkzettel kam unbearbeitet zurück, statt dessen kam die NSDAP an die Macht.

Die Unfähigkeit der heutigen Großen Koalition liegt offen zutage, ihr Kungeln mit der Großindustrie etwa in Zusammenhang mit der Dieselaffaire auch. Letztlich dürfte der Keim der Unzufriedenheit der breiten Bevölkerung auf die Finanzkrise 2008 zurückgehen. Hier machte man hautnah die Erfahrung, wie fragil dieses Wirtschaftssystem ist und wie sehr die etablierte Politik im Interesse von großen Banken, Fondsgesellschaften und dergleichen handelt. Die Schere in Einkommen und Vermögen geht seitdem beschleunigt auf. Und das bleibt beim Blick in die eigene Geldbörse niemandem mehr verborgen. Die moderne Globalisierung hat in ihrer Anfangsphase den Wohlstand weltweit wohl beflügelt, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Seit einigen Dekaden ist das reale Einkommen der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten bestenfalls unverändert (siehe z.B. hier!).

Das hat dazu geführt, dass die politisch normalerweise inaktiven Elemente in der Bevölkerung in zunehmenden Maße politisch enttäuscht, entwurzelt oder auch deklassiert werden. Daraus entsteht das Bedürfnis, eigene und Gruppen-Interessen vehement in die eigenen Hände zu nehmen. Daraus entsteht aber auch Ablehnung und Hass gegen die früher geachteten etablierten politischen Führer. Denen unterstellt man immer mehr, entweder aus Dummheit oder aus betrügerischer Gemeinheit zu handeln. Was in vielen Fällen auch nicht falsch ist…

An diesem Übergang stehen wir jetzt – und das ist die eigentliche Aussage der Wahlergebnisse der jüngeren Vergangenheit. Es gibt Länder, in denen ist die Entwicklung schon weiter – siehe USA, siehe auch aktuell Brasilien. In Deutschland befinden wir uns diesbezüglich noch in einer Frühphase. Das ist keine Beruhigung, soziale Entwicklungen können sehr schnell gehen. Das politische System ist instabil geworden, weil die breite Masse der Bevölkerung sich politisch zu positionieren beginnt. Sie ist dann nicht länger per Saldo neutral und passiv. Das aber ist eine entscheidende Bedingung dafür, dass ein demokratischer Staat funktioniert, der zwar im Sinne des Mehrheitsprinzips organisiert ist, aber in der Regel von einer Minderheit dirigiert wird.

Die SPD schlägt als Konsequenz aus ihrem anhaltenden Wahldesaster nun vor, einen genauen Zeitplan für die Abarbeitung der im Koalitionsvertrag festzulegen. An einem Prüfstein in der Mitte der Regierungsperiode soll dann entschieden werden, ob die Große Koalition weitergeht. Diese „technische“ Antwort auf eine sich entwickelnde fundamentale Staatskrise zeigt das ganze Unvermögen einer etablierten Partei wie der SPD, mit der aktuellen Situation umzugehen.

Wenn die etablierten Parteien nicht mehr zu bieten haben, wird die Schieflage, in der sich dieser Staat befindet, kaum wieder gerade zu rücken sein. Totalitäre Kräfte am rechten Rand lauern schon. Und die Sachsen-CDU hat vor einiger Zeit laut darüber nach gedacht, mit denen zu koalieren. So ist es recht(s)!

Ergänzung:
Als unmittelbare Konsequenz aus dem Ergebnis der Hessen-Wahl hat Merkel angekündigt, im Dezember nicht mehr für den CDU-Vorsitz zu kandidieren. Damit wird jetzt ein Personalkarussel angestoßen, das das Zeug hat, die noch am gestrigen Wahlabend als Konsequenz aus dem Desaster beschworene "Rückkehr zur Sacharbeit" schnell wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Das würde genau der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise mit den "großen" Volksparteien weiteren Vorschub leisten.

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