Es ist zehn Jahre her…

Vor zehn Jahren meldete Lehman Brothers Insolvenz an, bis dahin eine der größten Investmentbanken der USA. Über Nacht verloren 28.000 Mitarbeiter ihren Job, 690 Mrd. Dollar Firmenwert lösten sich in Luft auf. Wäre es dabei geblieben – dann würde heute niemand mehr darüber reden.

Aber dieses Ereignis war der Funke, der einen Flächenbrand im weltweiten Finanzsystem auslöste. Der pflanzte sich fort in die Realwirtschaft und kostete Millionen von Menschen ihren Job. Und sehr viele sahen ihre Ersparnisse dahinschwinden.

Die Zentralbanken taten das, was sie in solchen Situationen immer tun – sie öffneten die Geldschleusen, um notleidende Finanzinstitute zu retten, die als zu groß angesehen wurden, um zu fallen. Dieses Mal aber waren die Summen gigantisch. Weltweit wurden mehr als zehn Billionen Dollar an frischer Liquidität aus dem Nichts geschaffen, spiegelbildlich wurden die Leitzinsen auf, teilweise sogar unter Null Prozent gesenkt.

Die Zentralbanken nahmen sich dabei die Aktionen der japanischen Zentralbank zum Vorbild, die die dortige Immobilien- und Finanzkrise der frühen 1990er Jahre auf die gleiche Art bekämpfte. Der Erfolg dieser Maßnahmen war zeitweilig, eine Dekade später musste erneut eingegriffen werden, um die marode Bankenlandschaft zu bereinigen. Und heutzutage ist die Bank of Japan weiterhin mit einem bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt gigantischen Ankaufprogramm japanischer Staatsanleihen und sonstiger Finanzassets beschäftigt. Die Entwicklung des japanischen BIPs blieb trotz allem bis heute anemisch.

Die folgende Grafik legt den Schluss nahe, für Deutschland seien die Folgen der Lehman-Pleite und der sich anschließenden Finanzkrise überschaubar geblieben (Chartquelle).

Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt auf einem Rekordtief, das Wirtschaftswachstum ist stabil. Allerorten wird davon geredet, dass die Banken heute stabiler dastehen als vor „Lehman“. Das von ihnen ausgehende Risiko sei kleiner geworden, heißt es, man habe Lehren aus 2008 gezogen. Die Aktienkurse haben sich seit dem Einbruch in Gefolge der Lehman-Pleite erholt, die US-Börsen eilen von Rekord zu Rekord. Also „alles in Butter“?

Die weltweite Gesamtverschuldung von öffentlichen und privaten Haushalten, sowie von Unternehmen, ist per 2017 auf fast 240 Bill. Dollar gestiegen. Das ist ein Anstieg von mehr als 70 Bill. Dollar innerhalb von zehn Jahren (oder +42%). Alle Staaten gemeinsam stehen zurzeit mit fast 70 Bill. Dollar in der Kreide, das ist eine Verdoppelung in zehn Jahren. Die Gesamtverschuldung entspricht fast 320% des globalen BIP (rund 80 Bill. Dollar). Vor dem offenen Ausbruch der Finanzkrise waren es 210%.

Die Liquiditätsflut der Zentralbanken hat die Preise für Vermögensgegenstände angefeuert. Anleger können mit billigem Kredit-Geld spekulieren, Unternehmen finanzieren fast zum Nulltarif Aktienrückkäufe, Dividendensteigerungen und Firmenkäufe. Statt Halten von Cash als Vorsorge für schlechtere Zeiten wird mit riskanteren Anlagen spekuliert. Von den Zentralbanken gewünschte steigende Inflationsraten unterstützen die Preise von Assets wie Aktien und Immobilien. Verbraucher, Unternehmen und Regierungen werden durch Niedrigstzinsen ermuntert, weitere Darlehen aufzunehmen.

Die Kredit-Orgie bei den Unternehmen hat in den Jahren seit „Lehman“ zu einem Anstieg der Schulden von 42 auf mehr als 70 Bill. Dollar weltweit geführt. Dabei zeigt die Kreditqualität deutlich nach unten, die durch die Geldpolitik der Zentralbanken gedrückten Zinsen spiegeln das Risiko nicht adäquat wider. Von Firmen mit zweifelhafter Bonität als Finanzierungsinstrument ausgegebene Junk-Bonds werfen historisch niedrige Renditen ab.

Vor 2008 wurde in erster Linie eine Kredit-getriebene Preisblase bei Immobilien gezüchtet, heutzutage haben wir eine enorme Blase bei Schulden, Aktien und Immobilien, die "Everything-Bubble". Vor 2008 wurden fragwürdige Hypothekendarlehen in neuen Zusammenstellungen verpackt und „scheibchenweise“ an wissende und unwissende Anleger verkauft. Genau dasselbe geschieht heute wieder. Und Schattenbanken, die sich der Regulierung und Kontrolle durch die Zentralbanken entziehen, gedeihen prächtig.

Von alledem haben die normalen Werktätigen in den meisten Ländern der industrialisierten Welt wenig abbekommen. Die Anzahl der „prekären“ Arbeitsverhältnisse wächst, Altersarmut nimmt zu, die Reallohn-Entwicklung stagniert seit mehr als 20 Jahren. Der Anteil der US-Firmengewinne an der Nettowertschöpfung liegt im Rekordbereich, der Anteil der Löhne ist jedoch historisch niedrig – auch das zeigt, welche Seite nach 2008 profitiert hat. Auch steigende Mieten gehören zu den Auswirkungen der "Krisenbewältigung".

Das Finanzsystem ist heute verwundbarer als 2008. William White, bis Anfang 2008 Chefvolkswirt der BIZ, der Zentralbank der Zentralbanken, hatte seinerzeit die größte Rezession seit den 1930er Jahren prophezeiht. Er sagt heute, die der Lehman-Krise zugrunde liegenden Probleme sind nie bewältigt worden, sie haben sich im Gegenteil weiter verschärft. Die real-wirtschaftliche Rezession sei zwar relativ schnell überwunden worden, aber die Wettbewerbsfähigkeit von Firmen sei durch die staatlichen Konjunkturprogramme und Stundung von Krediten nicht gestärkt worden. Die großen Banken sind heute erst recht zu groß, um fallen gelassen werden zu. Die Schulden sind vor allem in den Schwellenländern und China höher als je zuvor, warnt White.

In der Tat, in der VR China hat sich die Verschuldung seit 2000 vervierfacht, das Verhältnis von Schulden zu BIP ist von 120% auf über 280% gestiegen. Das ist der absolut und relativ größte Brocken in Asien. Die Unternehmen vieler asiatischer Länder sind enorm verschuldet, und das besonders in Dollar. Mit der Zinspolitik der Fed, die Leitzinsen kleinen Schritten zu steigern, kommt der Dollar unter Aufwertungsdruck, lokale Währungen sinken. Damit wird für in Dollar verschuldete Kreditnehmer in den betroffenen Ländern eine Umschuldung immer teurer. Der Kurs wird auch dadurch verschärft, dass die Fed ihre mit den Rettungsmaßnahmen aufgeblähte Bilanz verkürzt und diesbezüglich im Oktober die Zügel weiter anzieht.

Wenn die Zinsen zu schnell anziehen auf ein „normales“ Niveau, fallen die Schuldenberge in sich zusammen, die nächste Finanzkrise ist da. Bleiben die Notenbanken trotz anziehender Inflation zu lange auf der Zins-Bremse, kommt es zu einem Vertrauensverlust, eine Geldkrise wäre die Folge. Zu dieser fragilen Situation kommt die extrem enge weltweite Verflechtung der Finanzinstitute hinzu, sowie ihre ähnliche Ausrichtung. Ein nennenswerter Preisverfall bei einer Asset-Art würde schnell eine Kettenreaktion nach sich ziehen. Die nach 2008 enorm gestiegene Bedeutung der ETFs unterstreicht das noch.

Zudem mag zwar das Risikomanagement, sowie die Bankenaufsicht an der einen oder anderen Stelle nach 2008 "etwas" verbessert worden sein, generell wird der Verkettung von Risiken aber immer noch nicht genügend Rechnung getragen – auch weil man sie einfach nicht genau kennt. Und so gehen die Risikomodelle in den Banken und anderswo weiterhin von viel zu geringen Wahrscheinlichkeiten von „worst case“-Szenarien aus.

Wenn die „Everything-Bubble“ platzt – sind die Politik und das globale Finanzsystem gerüstet? Der stark gestiegene Verschuldungsgrad und die niedrigen Zinsen lassen wenig Manövrierspielraum. Im Falle des Falles wäre erneut mit weltweiter Rezession, Massenarbeitslosigkeit und auch Staatspleiten zu rechnen.

Die gewohnte Reaktion, Geld zu drucken, dürfte jedenfalls nicht weiterführen. Nach jeder Krise wurden die Zinsen niedriger und die Schulden höher – das Ganze ist längst an eine Grenze gestoßen. Also ist dann im schlimmsten Falls ein Zusammenbruch des auf Vertrauen, d.h. auf Papier gegründeten Geldsystems zu erwarten – oder aber, "systemimmanent", etwa drastisch negative Zinsen. Um diese praktisch durchzusetzen, müssten sie flankiert werden von einem Bargeldverbot.

Auf der politischen Ebene war eine der indirekten Konsequenzen der Finanzkrise 2008 das Erstarken rechter Kräfte in Europa und anderswo. In diesem Zusammenhang ist auch die US-Präsidentschaft von Trump zu sehen. Sollte es erneut zu ähnlichen, bzw. gravierenderen wirtschaftlichen Turbulenzen als seinerzeit im Gefolge der Lehman-Pleite kommen, ist mit einer Beschleunigung dieser politischen Entwicklung bis hin zu faschististoiden oder faschistischen Regimes zu rechnen.

Lesenswert zum Thema auch: "Thomas Fricke: Lehman Brothers und die Finanzkrise – Die Großmutter aller Probleme"

Nachtrag:
(17.9.18) In "Ökonomische Wurzeln des Populismus" (h/t Wirtschaftswunder) analysiert Thieß Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung, ökonomische Ursachen des Populismus. Er beruft sich auf Studien, dass zunehmende ökonomische Unsicherheit zu geringerem Vertrauen in politischen Parteien zu ablehnenderer Haltung gegenüber Zuwanderern führt. In den Industriestaaten wurde diese Unsicherheit durch die Auswirkungen von Globalisierung und technischem Fortschritt für bestimmte Personengruppen erhöht. Darüber hinaus hat Populismus nach Petersen jedoch zahlreiche weitere Ursachen, so dass er sich nicht monokausal alleine durch wirtschaftliche Entwicklungen erklären lässt.

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