Globalisierung – was ist daran eigentlich neu?

Blickt man in die Geschichte der Menschheit zurück, so wurden schon sehr früh Versuche unternommen, den Einflussbereich von Gruppen, Stämmen oder Völkern geographisch zu erweitern. Die politischen Motive mögen dabei vielfältig sein, letztlich dürfte es immer darum gegangen sein, die ökonomische Grundlage der jeweiligen Gemeinschaft/Gesellschaft zu sichern, bzw. zu verbessern.

Nur drei Beispiele: Die Römer versuchten, ganz Europa unter ihren Einfluss zu bringen. Ende des 15. Jahrhunderts begann die europäische Welteroberung. Im 19. Jahrhundert kam mit der Kolonialisierung die Aufteilung (oder Neuaufteilung) der Welt unter den führenden imperialistischen Ländern der Welt.

Danach stand in den zwei Weltkriegen die Neuordnung der Machtverhältnisse in Europa auf der Agenda. Insbesondere Deutschland wähnte sich als zu kurz gekommen. Im Ersten und erst recht im Zweiten Weltkrieg traten die USA ins Rampenlicht, sie spielten fortan international die erste Geige. Die im 19. Jahrhundert führende Welthandelsnation und führende See- und Weltmacht Großbritannien hingegen stand nach dem Zweiten Weltkrieg knapp vor der Zahlungsunfähigkeit.

Waffenverkäufe und Rüstungskredite machten die USA in den 1940er Jahren zum größten Gläubiger weltweit. Der gewachsene internationale politisch-militärische Einfluss der USA, sowie der Aufbau eines wirtschaftspolitischen Gegengewichts zur Sowjetunion fand seinen Niederschlag im Mitte 1944 beschlossenen Systems von Bretton Woods.

Das Regime von Bretton Woods stellte den Rahmen dar für einen lang anhaltenden Export von US-Kapital in großem Stil und festigte so die Vorherrschaft der USA in der Welt. Neben den eingebauten Mängeln des Systems trug auch die Divergenz struktureller weltwirtschaftlicher Entwicklungen dazu bei, die grundlegenden Probleme eines Systems fester Wechselkurse schließlich aufbrechen zu lassen. Als die USA im Rahmen des Vietnam-Krieges auch noch einseitig eine übermäßig expansive Politik einleiteten, war das Ende des Systems besiegelt. Es wurde Anfang der 1970er Jahre ersetzt durch ein System flexibler Wechselkurse und freiem Kapitalverkehr, in dem die USA und das dort beheimatete Kapital den Ton angaben, also Macht und Beherrschung ausübten.

Was ist neu an der dann folgenden Globalisierung unserer Tage?

Das Ende des Systems von Bretton Woods hat die Mobilität des Produktionsfaktors Kapital drastisch gesteigert. Es konnte fortan noch einfacher dorthin transportiert werden, wo es optimale Verwertungsbedingungen vorfindet. Damit reduzierten sich auf der anderen Seite die Möglichkeiten der Organisationen des weniger mobilen Produktionsfaktors Arbeit, aber auch diejenigen anderer nationaler Institutionen und ganzer Nationalstaaten, mit dem Kapital Bedingungen auszuhandeln oder ihm Beschränkungen aufzuerlegen. Bei Nichtgefallen wandert es eben ins Ausland ab.

Die Folgen der Ereignisse der frühen 1970er Jahre waren neben der schleichenden Entmachtung der Nationalstaaten und des Faktors Arbeit eine ansteigende Verschuldung, die überschießende Spekulation, sowie explodierende Unternehmensgewinne im Finanzsektor. Dies lässt sich gut ablesen am Verlauf der Anteile der Profite der US-Finanzunternehmen nach Steuern am US-BIP. Diese sind seit 1969 um 212% angewachsen, die der nicht-Finanz-Unternehmen nur um 9%. Löhne und Gehälter kommen aktuell auf einen BIP-Anteil von 44%, 1969 lag der Anteil noch bei 50%.

Mit der seit mindestens drei Dekaden bestehenden Ungleichmäßigkeit von Einkommen und Wohlstand habe ich mich mehrfach befasst – u.a. hier: Die Mittelklasse in den entwickelten Ländern hat seit Mitte der 1980er Jahre nur verhältnismäßig geringe bis keine Zuwächse ihres Realeinkommens gesehen. Die mittleren Einkommen in den industrialisierten Ländern haben somit in der Kernzeit der Globalisierung kaum partizipiert. Die Einkommenverteilung strebt Verhältnissen zu, wie sie Ende der 1920er Jahre herrschten.

Mit den zwischen den Produktionsfaktoren einseitig veränderten Macht- und Gestaltungsmöglichkeiten verschiebt sich das gesamte soziale und politische Gefüge innerhalb der Einzelstaaten. Kann dafür auch die Tatsache als Beleg herangezogen werden, dass insbesondere seit der Finanzkrise der Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Lohnsteigerungen gestört ist?

Normalerweise verbessert sich mit anziehender Konjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Sie fordern höhere Löhne. Dem kommen die Unternehmen nach, wenn sie mit mehr Personal ihre Produktion ausweiten und so mehr verdienen können. Das führt zu einem kumulativen Prozess, nach dem mehr Nachfrage zu höheren Löhnen und mehr Einkommen zu mehr Nachfrage führt. Der triggert auch die Lohn-Preis-Spirale.

Die Löhne in Deutschland haben nach 2008 nicht mehr modellgerecht auf die Arbeitslosigkeit reagiert, wie das folgende Diagramm zeigt (Chartquelle).

In den USA sah die Lage zuletzt ähnlich aus. Zwischen Herbst 2010 und Herbst 2012 fielen Arbeitslosenquote (Cvilian Unemployment Rate) und jährliche Veränderungen der mittleren Wochenlöhne (Average Weekly Earnings…) synchron. Seitdem steigen die Löhne nur leicht an, die Arbeitslosigkeit sinkt deutlich ab. In der Zeit zwischen 2000 und 2007 war der Zusammenhang eindeutig modellgerecht gegenläufig. Allerdings gab es auch zwischen 1997 und 2000 schon einmal eine Phase, in der Löhnzuwächse und Arbeitslosigkeit zusammen abnahmen. Seit Herbst 1986 bis 1990 (der Phase der Reaganomics, die die Trumponomics zum Vorbild haben) verhielten sich beide Zeitreihen regelgerecht, davor sanken hingegen Arbeitslosenquote und Lohnzuwächse parallel. (Chartquelle)

Auch wenn bezogen auf die US-Daten das Bild mithin in den jüngsten 25 Jahren nicht so eindeutig ist, entsteht schon der Eindruck, dass sich auch dort seit 2008 Arbeitslosigkeit und Lohnentwicklung weniger so verhalten wie das theoretisch zu erwarten wäre. Besonders fällt allerdings im großen Bild auf, dass die Lohnentwicklung seit etwa 1985 in einem relativ schmalen Band zwischen einem und fünf Prozent verläuft, während Arbeitslosigkeit und Löhne zwischen 1965 und 1980 übergeordnet synchron anstiegen.

Das weist meiner Meinung auf den übergeordneten Zusammenhang hin: Mitte der 1980er Jahre markiert etwa die Halbzeit des aktuellen, von Elektronik, Informationstechnik oder auch Digitalisierung getriebenen Kondratieff-Zyklus. Bis dahin ging dessen Expansionphase. Aktuell befinden wir uns in dessen Winter, die gegenwärtige „Asynchronität“ zwischen Lohnentwicklung und Arbeitslosigkeit sehe ich eher als ein Ausdruck der im Kondratieff-Winter allgemein erlahmenden Wirtschaftstätigkeit, in der Innovationen nur noch inkrementeller Natur sind und Konsolidierung das zentrale Stichwort in der Wirtschaft ist.

Das schürt natürlich die Angst vor Arbeitsplatzverlust und gibt den Gewerkschaften nicht eben eine starke Verhandlungsposition. In dieselbe Richtung wirkt die Angst vor der Digitalisierung.

Digitalisierung ist zunächst nur ein anderes Wort für Produktivitätssteigerung. Jede technologische Entwicklung führt dazu, dass in „alten“ Industriesektoren Arbeitsplätze wegfallen. Dabei werden immer zunächst die jeweils einfacheren Tätigkeiten verlagert oder durch „Maschinen“ ersetzt, bevor die Entwicklung auch qualifiziertere Arbeitsstellen aufs Korn nimmt. Das hat erst einmal nichts mit der heutigen Globalisierung zu tun. Die Frage ist, ob und wie viele Arbeitsplätze durch die technologische Entwicklung neu entstehen. Hierfür allerdings stehen die Zeichen im Kondratieffschen Winter nicht besonders gut.

Um die Frage von oben aufzugreifen: Was ist neu an der Globalisierung unserer Tage? Neu ist meiner Meinung nach nicht, dass dahinter eine Neuordnung von Machtverhältnissen steht. Neu ist nicht die Produktivitätsentwicklung, auch wenn ihr Gesicht jeweils neu ist. Heute ist das eben die Digitalisierung. Neu ist auch nicht die Kontraktion im Rahmen der langen Kondratieff-Wellen mit all ihren Begleiterscheinungen, nachdem sich die Globalisierung in deren Expansionsphase etabliert hatte und nun in die Jahre gekommen ist.

Neu ist allerdings, dass es bei der Globalisierung unserer Tage weniger um die Vorherrschaft eines Landes geht, sondern um die großer Kapitalkonglomerate. Natürlich standen hinter den früheren Kämpfen von Nationen um Vorherrschaft und Einflusssphären immer schon Kapitalinteressen. Aber früher war das Kapital stark nationalisiert – mittlerweile ist es gerade durch flexible Wechselkurse und freien Kapitalverkehr eher „heimatlos“ geworden.

In diesem Zusammenhang gibt es zweifellos eine Besonderheit bei der Produktivitätssteigerung heutiger Machart: Die Informationstechnologie unterstützt in idealer Weise das „Vagabundentum“ des Kapitals. Und eine zweite Besonderheit ist das, was mit „Big Data“ umschrieben wird. Die großen Datensammelstellen von Facebook über Google, Twitter und Internetdienstleister allgemein verfügen über immer genauere Profile der Nutzer elektronischer Medien. Der Einzelne hat nahezu keine Möglichkeit, das zu unterbinden. Dies stellt ein Beherrschungspotenzial dar, wie es bereits George Orwell in „1984“ skizziert hat.

Das ist zwar auch nicht neu, weil auch die Obrigkeiten früherer Tage stets danach getrachtet haben und weiter trachten, so viele Informationen wie möglich über ihre Bürger zu bekommen. Aber die Heimatlosigkeit des Kapitals in Verbindung mit den großen Datensammelstellen und der relativen Bedeutungslosigkeit der Nationalstaaten ist eine Kombination, die erhebliche Risiken für die bürgerlichen Freiheiten bietet, u.a. weil die Bedrohung kaum zu greifen ist. Das ist das eigentlich neue oder besondere der heutigen Situation.

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