Stell Dir vor, es ist Brexit und keiner geht hin

In Abwandlung des Satzes „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ möchte ich ein vielleicht etwas kühnes Szenario entwickeln. Der Satz wird oft Bert Brecht zugeschrieben, stammt aber wohl von Carl August Sandburg, einem amerikanischen Dichter, Journalist und Historiker mit schwedischen Wurzeln.

Um den Brexit formaljustistisch einzuleiten, muss Englands Regierung das Verfahren nach Artikel 50 der Europäischen Verträge in Gang setzen. Das Referendum alleine stellt im Sinne dieser Vorschrift keine Weichen. Der jetzige britische Regierungschef Cameron will im Oktober zurücktreten und überlässt es seinem Nachfolger, den Schritt zu unternehmen. Es wird also (mindestens) bis Oktober dauern, bis die zweijährige Austrittsphase startet. So lange ist der Brexit „on hold“.

Die schottische und die nord-irische Bevölkerung stimmte mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib in der EU. Falls z.B. Schottland wie bereits angekündigt ein erneutes Referendum durchführt zur Loslösung von Großbritannien (und das verknüpft mit dem Anschluss an die EU) dürfte das schwerwiegende Folgen für den Bestand von Großbritannien haben.

So weit der Status quo.

Warum nimmt Cameron nicht gleich seinen Hut, wie das normalerweise zu erwarten wäre? Die Erklärung ist meiner Meinung nach so einfach wie typisch für die Politik innerhalb dieser EU: Die britische Regierung will bis Oktober mit Brüssel weitere Zugeständnisse für das Land aushandeln. Dann wird sie sagen, wir haben alles erreicht, was wir wollten (und noch ein wenig mehr), nun können wir bleiben. Treibende Kraft dabei dürfte auf kontinental-europäischer Seite die deutsche (Export-)Industrie sein, Pardon, Frau Merkel.

Möglicherweise wird die britische Regierung dann im Herbst nach vollbrachter Tat ein neues Referendum ansetzen oder auch einen anderen Weg finden, um das ihrem Volk als das zu verkaufen, was es ja „eigentlich“ wollte. Die jüngere Geschichte der EU ist voll von solchen Winkelzügen. Die EU ihrerseits wird weitgehende innere Reformen zusichern – und alle sind froh und glücklich und sehen die EU gestärkt aus der Krise hervorgehen. Große Taten folgen dann wohl eher nicht.

Stell Dir vor, es ist Brexit und keiner geht hin…, dann kommt der Brexit zu Euch.

[Die Fortsetzung von „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin…“ mit „dann kommt der Krieg zu euch“ wird oft ebenfalls (fälschlicherweise) Brecht zugeschrieben (siehe hier!).]

Nachtrag:
(1.7.16) Kishor H. Sridhar legt in „Großbritannien hat bei den Gesprächen mit der EU die besseren Karten“ dar, dass die politischen Köpfe Großbritanniens gute Chancen haben, den Brexit besser gestalten zu können, als es derzeit scheint – womöglich sogar mit völlig überraschenden Optionen. Voraussetzung ist, dass sie nach der derzeitigen Phase der Orientierungslosigkeit ihre Trümpfe geschickt und kreativ ausspielen und den Faktor Zeit klug für sich nutzen.

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