Brexit und die Deglobalisierung

Die Wogen vor dem Referendum in Großbritannien am Donnerstag dieser Woche über den Verbleib in der EU schlagen immer höher. Das Attentat auf eine EU-freundliche Parlamentarierin wird von den Finanzmärkten per Saldo so interpretiert, dass es das Lager der „Remainers“ stärkt. Demzufolge steigen europäische Aktien heute besonders kräftig an.

Das Hauptargument der „Remainers“ ist die Gefahr eines wirtschaftlichen Abschwungs. Tritt das Land tatsächlich aus der EU aus, so beginnt eine zweijährige, vertraglich festgelegte Übergangsphase, in der die Beziehungen neu geordnet werden. Die wahrscheinlichste Lösung ist, dass das Land der EFTA beitritt und damit hinsichtlich der EU einen ähnlichen Status einnimmt wie Norwegen. In Norwegen ist die Welt bisher nicht untergegangen und so wird es hinsichtlich Großbritannien auch sein. Kurzfristig dürften sehr wohl die Unsicherheiten und Belastungen dominieren. Langfristig scheinen mir die direkten wirtschaftlichen Auswirkungen aber gering zu sein. Das gilt auch für den Finanzplatz London. China ist auch nicht in der EU und trotzdem treiben wir eifrig Handel mit dem Land.

Im Einzelnen: Großbritannien muss im Falle eines Brexit seinen internationalen Handel neu ordnen. Das hatte in den zurückliegenden 20 Jahren die EU besorgt, hier entsteht erst einmal eine gewaltige Aufgabe, die den Handel zeitweilig beeinträchtigen kann. Für Deutschland, Irland, Spanien und Polen ist Großbritannien unter den drei bedeutendsten Handelspartnern. Der lokale englische Arbeitsmarkt könnte profitieren, weil der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte stärker beschränkt werden kann. Insgesamt arbeiten über 1,7 Millionen Ausländer in Großbritannien. Zahlreiche multinationale Konzerne benutzen das Land als Brückenkopf für die Verbindung zur EU insgesamt. Im Falle eines Brexit könnten solche Unternehmen in andere Länder ziehen, wenn durch neue Restriktionen und sonstige Belastungen Hürden aufgebaut werden (von welcher Seite auch immer). Dadurch könnte das Land ausländische Kapitalzuflüsse und Steuereinnahmen verlieren. Andererseits könnten lokale englische Unternehmen sich dann stärker entwickeln, das würde der englischen Bevölkerung mehr nutzen als die Aktivitäten von Multis. Alles in allem erscheinen mir Chancen und Risiken nicht so schlecht verteilt zu sein – es kommt darauf an, was man draus macht.

Die Argumente vieler „Leavers“ lassen sich in drei Sätzen zusammenfassen: Unser Land ist stark – verwiesen wird dabei in erster Linie auf den Sieg ihres Landes über Hitler-Deutschland. Die EU ist eine Konstruktion, getrieben durch den Kriegs-Verlierer Deutschland und sein Opfer Frankreich, mit dem Ziel Großbritannien zu erobern und zu knechten. Durch die von der EU verordnete Flüchtlingspolitik wird das Land mit Immigranten überschwemmt.

In vielem erinnern die naiven und dummen Sprüche der Brexit-Befürworter an die Kampagne von US-Präsidentschaftskandidat Trump und dessen Anhänger. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit vielen, auch historisch falschen Argumenten der „Brexiteers“ lohnt sich nicht. Wichtig ist jedoch, welche Gründe es gibt für diese breite Ablehnung der EU.

U.a. aufgrund der Insellage hat sich in Großbritannien ein recht organisch gewachsenes Verhältnis zur Regierung und zum Staatswesen gebildet. Nicht zufällig entstand in England nicht nur früh der Kapitalismus, sondern es entwickelten sich auch früh demokratische Theorien und Regierungsformen. In Kontinental-Europa hingegen gab es über Jahrhunderte Invasion, Kriege und Vertreibungen. Kein Wunder, dass die Bevölkerungen Regierungen häufig als Beherrschung wahrnahmen und sich deshalb nicht mit dem jeweiligen Staatswesen identifizierten. Sie sahen sie weder als Regierung des Volkes, noch für das Volk an. Das ist u.a. auch ein Grund für ausufernde Korruption und Schwarz-Wirtschaft.

Die EU ist von ihrer Anlage her durch und durch undemokratisch konstruiert. Hierzu ist vor kurzem ein guter Artikel in „The Telegraph“ erschienen – siehe hier! Es gibt einen guten Grund für einen Brexit – und das ist der, dieser undemokratischen und bürokratischen Veranstaltung in Brüssel „goodbye“ zu sagen. Dieser Schritt verschärft die ohnehin schwelende Krise der EU, das ist klar. Aber er ist nicht die Ursache, sondern die Folge dieser Krise.

Dass sich die europäischen Länder und Völker immer weniger mit dem Gebilde EU identifizieren, liegt nicht in erster Linie an einer verbohrt nationalistischen Gesinnung, sondern daran, dass die EU es nicht geschafft hat, sich als im Interesse der Europäer agierend zu präsentieren. Nationalistisches Gedankengut ist sehr wohl ein verstärkender Faktor. Aber die EU hat die Chance vertan, vorzuleben, dass "Kleinstaaterei" historisch überlebt ist und eine gute Zukunft der Bürger in einem vereinigten Europa liegt. Stattdessen wird sie zu recht häufig als Instrumentarium zur Rettung des völlig überdimensionierten europäischen Bankensystems wahrgenommen.

Und so erstarken überall in Europa Strömungen, die sich gegen die Brüsseler Zentralgewalt auflehnen. In der Regel sind diese getragen von nationalistischem, bzw. separatistischem Gedankengut, in Deutschland bekommt die AfD kräftigen Zulauf. In Ungarn und Polen kommen starke antidemokratische Bestrebungen dazu, wenig verwunderlich angesichts des erst (historisch) kurz zurückliegenden Zusammenbruchs des Ostblocks. Das Versagen der EU in Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik hat diesen Bewegungen einen Schub gegeben und spielt auch beim „Brexit“ eine wichtige Rolle.

Das demografische Profil der potenziellen Brexit-Befürworter ähnelt dem der Anhänger des Front National in Frankreich und der Unterstützer Donald Trumps in den USA. Das weist darauf hin, dass der Brexit kein isoliert europäisches Problem ist. Zu den wirtschaftlichen, demografischen und gesellschaftlichen Ähnlichkeiten zwischen den USA und Großbritannien gehört auch, dass traditionelle politische Bündnisse und vorherrschende Zweiparteiensysteme vor ähnlichen Herausforderungen und Unsicherheiten stehen (siehe hier!).

Gewinnt in einem politisch so phlegmatischen Land wie Grossbritannien das Brexit-Lager, könnte das Finanzmärkte und Unternehmen weltweit aus ihrer Selbstgefälligkeit in Bezug auf populistische Bewegungen in Europa und in den USA wecken. Die sich daraus ergebende Unsicherheit kann ihrerseits die wirtschaftlichen Realitäten verändern und zu wirtschaftlichen Problemen führen, die angesichts der ohnehin schwachen wirtschaftlichen Verfassung vieler Länder recht schnell bei den Bürgern in Form von Verlust von Jobs und Ersparnissen ankommen können. Daraus entstehende Wut kann sich dieses Mal kaum gegen ein so klar umrissenes Ziel richten, wie 2008 gegen die Banken, sondern dürfte diffuse nationalistische und separatistische Strömungen weiter stärken.

Geht man davon aus, dass gesellschaftliche Ideen in erster Linie Reflex von Bewegungen an der wirtschaftlichen Basis sind, dann dürfte eine der Ursachen für solche Strömungen wohl in einer Tendenz zur Deglobalisierung liegen. Die konsistent zurückgehenden Außenhandelsdaten der VR China, der Werkbank der Welt, sind hierfür ein Indiz, wie auch insgesamt die Tendenz im Welthandel. Sein Volumen hatte etwa um 2000 sein höchstes jährliches Wachstum, seitdem lässt die Expansion nach. Wenn sich dies verstärkt, müssen sich die Finanzmärkte völlig neu orientieren, für sie stand seit Ende des Bretton Woods Systems Anfang der 1970er Jahre die Globalisierung im Fokus.

Der Brexit an sich mag zwar recht begrenzte Auswirkungen haben, als Teil einer viel breiteren Strömung im Sinne einer Deglobalisierung könnten die wirtschaftlichen und politischen Folgen aber längerfristig beträchtlich und weitreichend sein.

Ergänzung:
Ein lesenswerter Artikel aus US-Sicht (h/t T.J.): "When voting on Brexit, emotional ties to Europe likely won’t be on Brits’ minds". "The masses don´t seem to trust the establishment and decide instead to trust idiots."

Nachtrag:
(20.6.16) Im Kondratieff-„Winter“, der letzten Phase eines solchen langen Wirtschaftszyklus, sind es zunehmend radikale Töne, die das politische und soziale Geschehen bestimmen. Als Folge zunehmender wirtschaftlicher Probleme scheitern etablierte politische Bündnisse immer häufiger und es entstehen in rascher Folge neue Konstellationen. Mehr dazu u.a. hier und hier!

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