Sind Aktien überbewertet?

Klare Antwort auf die Frage in der Überschrift: Ja! Nächste Frage: Wie stark? Darum soll es im folgenden Artikel gehen. Allerdings ist das Bewertungsniveau auch nur ein Baustein, wenn es darum geht, das noch verbleibende Kurspotenzial für Aktien auszuloten. Ich konzentriere mich im folgenden auf den amerikanischen Aktienmarkt, und hier auf den S&P 500 Index, wo immer noch der Takt geschlagen wird.

Es gibt verschiedene Sichtweisen auf die Bewertung von Aktien. Die gebräuchlichste ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Ich bevorzuge dabei das sogenannte Shiller-KGV (CAPE), das das KGV zyklisch und inflationsseitig anpasst. Als Vergleichsmaßstab wird häufig der historische Mittelwert oder der historische Median über die Zeitreihe von rund 130 Jahren genommen. Der liegt bei 16,52, bzw. 15,92, womit sich gemessen am aktuellen KGV von 26,97 eine „Überbewertung“ von knapp 63%, bzw. 69% ergibt. Mir ist der Bezug auf einen historischen Mittelwert über eine solch lange Zeitreihe allerdings zu statisch, ich sehe eher eine Referenzlinie in Form einer linearen Regression. Das im Zeitablauf ansteigende mittlere KGV lässt sich fundamental durch steigende Produktivität und sinkende Kapitalkosten rechtfertigen. Ein mittleres KGV von rund 12,50 im Jahre 1885 entspricht so einem von etwa 20,60 heute. Die Grenzen des um die Regressionsgerade herum gelegten Trendkanals (siehe „rot“ im Chart) markieren eine erhebliche Über-, bzw. Unterbewertung von 40%. Aktuell liegt das Shiller-KGV des S&P 500 bei 26,97, demzufolge wäre eine Überbewertung von 31% festzustellen. Die Oberseite des Kanals bei 28,84 markiert aus meiner Sicht den Bereich, an dem die Blase der Überbewertung sehr weit aufgeblasen ist. Die aktuelle Bewertung ist nicht mehr weit davon weg.

Warren Buffet sieht Aktien dann als überbewertet an, wenn die Kapitalisierung der Aktienmärkte das BIP übersteigt. Im folgenden Chart wird statt des BIP das GNP (Gross National Product) verwendet, weil es Auslands-Einkünfte etwa von US-Multis berücksichtigt. Das Verhältnis hat das Topp vor dem offenen Ausbruch der Finanzkrise überschritten und bewegt sich auf den historischen Rekord aus der Dotcom-Blase zu. Auch hier müsste man also Überbewertung attestieren.

Wenn man die Aktienmarktkapitalisierung ins Verhältnis zum Umsatz der nicht-Finanz-Unternehmen setzt, ergibt sich ein ähnlich überwertetes Bild. In der Relation zum Gewinn sieht das anders aus. Das Verhältnis ist auch hier nicht mehr „billig“, aber es liegt aktuell immer noch unter den Spitzenwerten der Ära vor 2008, ganz zu schweigen von den Verhältnis vor 2000. Die Unternehmensgewinne steigen deutlich schneller an als die Umsätze.

Die Frage ist, wie lange diese Entwicklung noch anhält. Je weiter sich der Konjunkturzyklus entwickelt, je stärker steigt die gesamtgesellschaftliche Nachfrage. Das führt zu steigenden Unternehmensumsätzen und steigender Beschäftigung, treibt aber schließlich die Abeitskosten nach oben und schmälert so die Gewinne. Im folgenden Chart zeigt die braune Linie das Verhältnis der Arbeitskosten zur Nettowertschöpfung der nicht-Finanz-Unternehmen, die blaue Linie zeigt die Entwicklung der Gewinne in Bezug zur Nettowertschöpfung. Wie nicht anders zu erwarten, verhalten sich beide Zeitreihen invers zueinander. Rezessionen fallen mit lokalen Minima bei der Gewinnentwicklung zusammen.

Der Anteil der Unternehmensgewinne am GNP ist in den zurückliegenden 30 Jahren angestiegen. Gleichzeitig sind die Anleihe-Renditen deutlich gesunken, was über die Senkung der Finanzierungskosten für Unternehmen und langlebige Verbrauchsgüter einen zweifachen positiven Effekt auf die Unternehmensgewinne hat. Auch die sinkenden effektiven Unternehmenssteuern haben dazu beigetragen, dass die Unternehmensgewinne im Vergleich zum BIP, bzw. GNP angestiegen sind.

Von den drei wichtigsten Einflussfaktoren auf die Unternehmensgewinne, Arbeitskosten, Zinsen und Steuern, liefert die Besteuerung vermutlich die langfristig stabilste Unterstützung für die Gewinnentwicklung. Was die Zinsen angeht, so bewegt sich die Benchmark-Rendite der zehnjährigen TNotes zwar nach oben, liegt aber wie hier gezeigt „komfortabel“ in einem seit Ende der 1980er Jahre bestehenden Abwärtskanal. Erst oberhalb von 3% muss der seit über 30 Jahren bestehende Abwärtstrend der Zinsen in Frage gestellt werden. Die Entwicklung der Arbeitskosten ist sicherlich der volatilste Faktor, aber von hier aus geht wie oben gezeigt keine unmittelbare Gefahr für einen Gewinn-Kollaps aus.

Dies bestätigt auch die folgende Sicht. Das Wachstum der Stundenlöhne in der US-Fertigungsindustrie bleibt weiterhin komfortabel unter dem Inflationsziel der Fed bei 2%. Erst oberhalb dieser Schwelle dürfte die Fed dazu neigen, die Zinsen deutlich anzuheben, was die langfristigen Zinsen nach oben treibt und darüber wie auch über die steigenden Arbeitskosten die Gewinne drückt.

An diesem Punkt ergibt sich nach den beiden populärsten Methoden, Überbewertungen abzuschätzen, dass sich die Aktienmärkte in einer entwickelten Bewertungsblase bewegen. Beim KGV-Ansatz sollte man im Hinterkopf behalten, dass sich das angesichts der enormen Cash-Position der US-Unternehmen per Aktienrückkauf in gewissem Umfang manipulieren lässt.

Ein differenzierteres Bild ergibt sich aus einem gesamtwirtschaftlichen Blickwinkel. Zwar dürfte aus dieser Sicht das Potenzial weiterer deutlicher Gewinnsteigerungen momentan nicht sehr groß sein, aber es ist auch nicht zu sehen, dass ein Gewinn-Kollaps droht.

Das unterstreicht auch die Modellierung des Konjunkturzyklus auf Basis der Gewinnanteile am BIP. Für die Finanzindustrie scheint Ende 2012, Anfang 2013 ein Topp erreicht, bei den nicht-Finanz-Unternehmen scheint sich bisher ein Plateau mit noch leicht steigender Tendenz auszubilden. Auch aus anderen Makro-Indikatoren ergibt sich nicht, dass eine Rezession in den USA (=Gewinneinbruch) unmittelbar bevorsteht, auch wenn einige, wie etwa der Index der Industrieproduktion, seit Monaten Schwäche zeigen.

Was macht der S&P 500 vor diesem Hintergrund? Der folgende Chart zeigt die fraktale Sicht auf den S&P 500. Seine Aussage ist unverändert. Die obere rote Linie („Linearity“) zeigt, wie weit der Herdentrieb fortgeschritten ist. Sie hatte im Dezember einen Rekordwert von 96% erreicht, aktuell liegt sie wie im Vormonat auch bei 94%. Das ist im historischen Vergleich sehr hoch. Für sich alleine sind solch hohe Werte aber keine Indikation auf eine unmittelbar bevorstehende massive Korrektur, bzw. einen beginnenden Bären-Markt. Damit ist erfahrungsgemäß erst zu rechnen, wenn das Niveau von 90% unterschritten wird. Auch von anderen Indikatoren, die die statistische Verteilung der Dynamik im Kursverlauf (gelbe Linie im oberen Chart-Bereich) und die Zuordnung und Richtung verschiedener gleitender Durchschnitte (hellgrüne Linie) auswerten, kommt bisher kein Warnsignal (vergleichen Sie dazu die Topp-Phasen 2000 und 2007 im Chart!).

Wir stehen am Quartalsende, üblicherweise wird da Window-Dressing betrieben. Früh im Juli startet die Saison der Quartalsberichte und wird ein Licht auf die Gewinnentwicklung werfen. In den Sommermonaten dünnt der Handel normalerweise aus, die Volatilität steigt und damit steigt in Verbindung mit dem elaborierten Kursniveau auch die Gefahr technischer Betriebsunfälle. Hinzu kommt: Der S&P 500 bewegt sich seit Jahresanfang in einer schmalen Handelsspanne, auf Basis von Monatsschlusskursen zwischen 2068 und 2107. Das ist für sich genommen ein Hinweis, dass die großen Akteure den Index offenbar als fair bewertet ansehen. In dieser Zeit hat die Selbstgefälligkeit der Akteure zugenommen, die Auswertung des Verlaufs der Breite des Bollingerbands des VIX zeigt seit Februar fast durchgängig „Acceptance“. Eine solch ausgedehnte Periode hat es seit längerem nicht mehr gegeben. Das macht anfällig, weil die Akteure, einmal aus ihrer zufriedenen Schläfrigkeit gerissen, zu besonders heftigen Reaktionen neigen.

Auch wenn die Abwärtsrisiken aktuell (saisonal) größer sein mögen, ein Ausbruch aus der Handelsspanne über alte Rekordstände hinaus ist nicht völlig aus der Welt. Mögliche Katalysatoren können in einer deutlichen Abschwächung des Dollar liegen oder auch die zeitweilige „Lösung“ der Griechenland-Krise, wobei beide Ereignisse sich wahrscheinlich gegenseitig bedingen. Eine Verbilligung des Dollar wird als Gewinn-Turbo für US-Multis betrachtet, eine Stärkung des Euro signalisierte abnehmende Eurozonen-Risiken.

[Unter Verwendung von Material von Colin Twiggs, Incrediblecharts]

So lange die Aussicht auf mittelfristig weitere Steigerungen der Unternehmensgewinne besteht, dürfte der S&P 500 übergeordnet recht gut nach unten abgesichert sein. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Kurssteigerungen ist dann trotz elaborierter Bewertungen höher als ein anhaltender Einbruch mit ausgedehnten Gewinnmitnahmen. Auch saisonal bedingt ist aber für die nächsten Wochen und Monate mit erhöhter Volatilität und technischen Betriebsunfällen zu rechnen.

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