Die Manipulation geht weiter

Spätestens seit den 1980er Jahren wird mit zunehmender „Brutalität“ in die wirtschaftlichen Preisbildungsprozesse eingegriffen. Zwar gab es auch zuvor schon allerorten Interventionismus. Aber das Ende des Systems von Bretton Woods 1971, das zur Freigabe der Wechselkurse und zu zunehmend ungehindertem Kapitalverkehr führte, läutete in diesem Sinne eine neue Ära ein.

Bei den Zentralbanken hat sich nach und nach die Politik durchgesetzt, durch Geldmengen-Ausweitung jede größere Wirtschaftskrise im Keim zu ersticken. Hierdurch wurde der Prozess der „natürlichen“ Bereinigung unterdrückt, der schwache Unternehmen hätte vom Markt verschwinden lassen und Raum geben würde für neue, innovative Kräfte. Und: Der so manipulierte Zins verliert so mehr und mehr seine Zeiger-Funktion.

Gleichzeitig wurde mit der Ende der 1990er verstärkten Deregulierung des Finanzsystems der Weg frei für eine immer stärkere Konzentration im Bank-Sektor und immer größere Risiko-Neigung hier. Bereits davor gab es immer wieder Schieflagen großer Institutionen (z.B. LTCM), die mit öffentlichen Mitteln bereinigt wurden, aber mit der Jahrtausendwende entstanden im Bankensystem gigantische Konzerne. In der Finanzkrise 2008 wurden sie als systemrelevant eingestuft und mit massivem Einsatz öffentlicher Mittel aus Schieflagen, die sie selbst herbeigeführt hatten, gerettet. Es folgte die Rettung hoch verschuldeter Staaten.

Interessant ist dabei folgendes: Erstens folgte jedem größerem Akt von scheinbarer Liberalisierung und „Befreiung der Marktkräfte“ eine Dekade später eine große Krise des Finanzsystems. Zweitens wird in zunehmendem Umfang massiv in eben diese „befreiten“ Marktkräfte eingegriffen, um die in Schieflage geratenen Unternehmen und Staaten zu „retten“. Die „Rettung“ geschieht dabei durch politisch gesteuerte Umverteilung.

Ich habe ‚Befreiung’ und ‚befreit’ in „Gänsefüßchen“ gesetzt, weil es sich dabei um neoliberale Aktionen eines „Laissez-faire“ handelte, deren Ziel es war, Ordnungsrahmen einzureißen, ohne die die Marktkräfte im Sinne gesellschaftlichen Wohlstands eher destruktiv wirken.

Die herrschende Politik fühlt sich durch ihre Eingriffe seit 2008 ermuntert, immer mehr Bereiche marktfremd operativ zu manipulieren. Mittlerweile scheint so auch die Umverteilungsmentalität so richtig in Mode zu kommen. Diese Welle begünstigend kommen Veröffentlichungen wie die von Piketty gerade recht. Sie legen Sachverhalte korrekt offen, in diesem Fall die Begünstigung oberer Einkommensschichten insbesondere in der Nach-Krisen-Ära. Hierzu passt im Übrigen der folgende Chart, der zeigt, dass die Schere zwischen Produktivität und Stundenlöhnen nicht zufällig (s.o.) seit den frühen 1970er Jahren, mit der modernen Globalisierung, auseinanderklafft. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass seit dieser Zeit die Kapitaleinkommen besonders vom Produktivitätsfortschritt profitiert haben.

Die Schlüsse, die die praktische Politik aus den Analysen von Piketty und anderen zieht, sind jedoch falsch. Sie leitet daraus die Berechtigung ab, operativ in den Markt eingreifen zu müssen (siehe hierzu auch "Der Weg zu einer gerechteren Einkommensverteilung"). Die Große Koalition praktiziert dies mit besonderer deutscher Gründlichkeit: Dem Mindestlohn folgt die Mietpreisbremse. In den USA existiert seit 1938 ein gesetzlicher Mindestlohn. Wie die obige Graphik nahelegt, hat er zumindest seit den frühen 1970er Jahren wenig dazu beigetragen, dass Lohneinkommen am Produktivitätsfortschritt teilgenommen haben.

Darüber hinaus ist die Energiewende, so wie sie in Deutschland angestellt wird, ein besonders gravierendes Beispiel für fehlgeleitete Eingriffe in das Wirtschaftssystem.

Eine Wettbewerbswirtschaft mit festem Ordnungsrahmen organisiert sich ohne zentrale Planung. Dabei stimmt der Preismechanismus die Interessen der Wirtschaftssubjekte aufeinander ab, die sich bildenden Preise haben Lenkungsfunktion.

Die Politik scheint, fast 25 Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs zu der Erkenntnis gekommen zu sein, sie sei besser in der Lage als jeder Preismechanismus, ein solch komplexes System wie die Wirtschaft zu lenken. Je stärker in den Preismechanismus eingegriffen wird, je mehr verlieren Preise ihre Bedeutung als Anzeige- und Steuerungsinstrument. Die Wirtschaft verliert als Ganzes ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, Ressourcen werden fehlgeleitet, ihr Einsatz wird suboptimal, die Effizienz des Wirtschaftssystems kommt unter die Räder. Zudem macht ein operativer marktfremder Eingriff sogleich den nächsten erforderlich, das System wird zunehmend instabil.

Die Eurozone ist ein besonders beredtes Beispiel für eine unendliche Folge von marktfremden Eingriffen in das Wirtschaftssystem. Von Anfang an ein rein politisch motiviertes Gebäude, erfolgte ihre Gründung ohne dass hierzu die wirtschaftlichen Mindestvoraussetzungen wie etwa eine einheitliche Fiskalpolitik gegeben waren (Eurozone – von Anfang daneben). Der vereinheitlichte Zinssatz war für die südliche Peripherie viel zu niedrig, was kam, war ein Kredit-getriebener Boom. Nach 2010 mussten die marodesten Staaten mit höchstmöglichen Mittelaufwand gerettet werden, um die einheitliche Währung zu retten, die wiederum eine erleichterte Anpassung über Wechselkurse verhinderte und nach wie vor verhindert und die Krisenländer dazu zwingt, Preise und Löhne zu senken.

Nun rufen Ökonomen wie Flassbeck und zahlreiche Politiker zur nächsten Manipulation der Manipulation auf. Man solle auf der europäischen Ebene Milde walten lassen mit der Unwilligkeit oder Unfähigkeit von Frankreich und Italien, die eigenen Finanzen in Ordnung zu bringen. Hintergedanke bei Flassbeck ist, dass Deutschland sich stärker verschulden soll, um per Nachfrageimpuls in den Krisenländern den Anpassungsdruck auf deren Löhne zu verringern. Eine zeitliche Streckung des Schuldenabbaus in den öffentlichen Haushalten in Frankreich und Italien brächte nichts. Die Crux ist nämlich, wie Flassbeck richtig bemerkt, dass diese und andere Länder dem im Vergleich niedrigen deutschen Preisniveau ohne jedes Wechselkursventil beim internationalen Handel ausgeliefert sind.

Der von Flassbeck vorgeschlagene Weg der stärkeren Verschuldung Deutschlands treibt allerdings den Teufel mit dem Belzebub aus. In Deutschland geschieht dann das, was vor 2008 zur Krise in den Südländern geführt hat. Die Zinsen der Eurozone sind sowieso für die deutsche Wirtschaftsverfassung viel zu niedrig.

In Frankreich hat die Defizitquote seit Gründung der Währungsunion in neun von 15 Jahren oberhalb der Maastricht-Grenze von 3% des BIP gelegen – auch in diesem Jahr wird das so sein. Auch Deutschland hat die Grenze verschiedene Male gerissen, kann sich also kaum als Vorbild gerieren.

Die Regierungen Italiens (Staatsschuldenstand mittlerweile knapp 133% des BIP) und Frankreichs, auch andere führende Sozialisten und Sozialdemokraten haben jetzt gefordert, den Stabilitätspakt flexibler auszulegen, um Wachstum und Investitionen zu fördern. Der französische Präsident schlägt ein fünfjähriges Investitionsprogramm mit öffentlichen Geldern der Staaten, aus Europa sowie von Privaten vor. Zudem forderte er einen Mindestlohn in allen EU-Staaten.

Eine Totgeburt lässt sich auch mit lebenserhaltenden Eingriffen nicht reanimieren. Aber der Italiener an der Spitze der EZB wird es schon richten – so der Glaube. Daher gilt auch: Totgesagte leben länger.

Nachtrag:
(27.6.14) Zum Thema Mindestlohn greift die FAZ eine Äußerung von Volker Kauder (CDU) auf, wonach Arbeitgeber und Gewerkschaften Lösungen finden müssten, “dass der Mindestlohn nicht unmittelbar nach seiner Einführung zu Arbeitsplatzverlusten führt”. Demnach sind die Tarifparteien, nicht die Politiker schuld, wenn der Mindestlohn Probleme bringt.

(27.6.14) Unter der Überschrift "Die Stunde der Erpresser" fragt die FAZ: Wenn schon nicht die richtige Person an die Spitze der EU rückt, gewinnt durch das bizarre Manöver dann wenigstens die richtige Politik? Nein, denn Europa wird den Stabilitätspakt künftig extraweich auslegen, damit die Südländer mehr Schulden machen dürfen. Wenn die Südländer nun fordern, Europa solle ihnen Zeit kaufen, dann könne man nur sagen: Genau das ist längst geschehen. Aber manche Länder, allen voran Frankreich, haben diese Zeit nicht genutzt. Die EZB hat den Finanzinstituten im Süden für schlechte Sicherheiten gutes Geld gegeben. Dadurch geht das Risiko auf die Gemeinschaft über, heißt es.

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