EZB-Draghi: Einerseits, andererseits

Die EZB hat auf ihrer gestrigen Sitzung keine Änderungen an ihrer Geldpolitik vorgenommen. Vielfach war erwartet worden, dass sie etwas tut – was genau, darüber gingen die Meinungen allerdings weit auseinander. Die einen stellten sich ein QE-Programm vor, die anderen wollten sehen, dass die Sterilisierung des SMP-Programms aufgehoben wird. Wieder andere sahen schon den Leitzins auf 0,1% sinken.

Nichts geschah, außer, dass der DAX-Future im Umfeld der Veröffentlichung der Entscheidung einen Sekunden-„Flash-Crash“ hinlegte. Wie Wolfgang Münchau, Eurointelligence, schreibt, könnte dieser Tag für Historiker interessant werden. Wenn die Eurozone in Deflation abrutscht, würden sie ihn als den Tag ansehen, an dem die EZB ihren größten politischen Fehler begangen hat. Wenn nicht, könnte EZB-Chef Draghi in die Geschichte eingehen als der Mann, der die Nerven behalten hat.

Draghi sagte, die Inflation werde noch einige Zeit niedrig bleiben, aber mittel- bis langfristig zum Inflationsziel der EZB bei 2% zurückkehren, Deflation werde es nicht geben. Zuvor war meist von „mittelfristig“ die Rede, was im Sprachgebrauch der Volkswirte eine Zeitspanne von maximal zwei Jahren bedeutet. Mit der neuen Ausrichtung wird das Zeitziel nun auf jenseits dieser zwei Jahre, also auf „irgendwann“ gelegt. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Ziel erreicht wird, auf 100%…

Das wichtigste Argument von Draghi, warum man nicht tätig geworden ist, läuft darauf hinaus, dass der EZB-Rat noch nicht genügend Daten zusammen hat, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Anfang März, so Draghi, werde die EZB über aktuellere Prognosen zur Entwicklung von Inflation, Wachstum und Arbeitsmarkt verfügen. Dann sei auch erstmals ein Ausblick bis ins Jahr 2016 möglich. Offenbar scheint es im Rat keine politische Linie zu geben – oder viele. Das Argument, man habe nicht genügend Daten zusammen, kann man jeden Tag aufs neue bringen.

Zur wirtschaftlichen Entwicklung sagte Draghi, die Erholung sei unterwegs. Einerseits. Andererseits sei Vorsicht geboten, wie der Einzelhandelsumsatz in der Eurozone für Dezember zeigt. Er ist um 1,6% zurückgegangen nach einem Anstieg um 0,9% im November. Analysten hatten für Dezember lediglich mit einer Schrumpfung um 0,5% gerechnet. Die größte Belastung kam aus Deutschland. Zu den monetären Daten sagte er, ja, sie seien nicht gut. Anderseits müssten die Banken auf den AQR und den Stresstest einstellen. Siehe hierzu: "Eurozone: Erholung oder 'Erholung'".

Aktuell gelte es, so Draghi, auch die Entwicklung in den Schwellenländern genau zu beobachten. Hieraus könnten weitere Risiken für die wirtschaftliche Erholung in der Eurozone erwachsen.

Draghi hat mit seinem “einerseits – andererseits” alle Optionen offen gelassen. Alles ist denkbar bis hin zu einem QE-Programm. Mit der gestrigen Vorstellung verdichten sich natürlich die Erwartungen, dass die EZB auf ihrer nächsten Sitzung massive geldpolitische Lockerungen beschließen wird. Einige Beobachter halten den direkten Kauf von besicherten Krediten an kleine und mittlere Unternehmen für das effektivste Instrument. Wieder andere empfehlen gar, die EZB solle Aktien kaufen.

Gavyn Davies schreibt in seinem Blog bei der FT, die EZB denke immer noch in inkrementalen Änderungen ihrer Politik. Dem liege die Annahme zugrunde, dass die Output-Lücke relativ klein ist und die Inflation mittelfristig zum Zielbereich „unter oder nahe an 2%“ zurückfindet.

Einige Beobachter sehen allerdings die Inflationsrate weiter fallen und halten im Frühjahr auch 0,5% für möglich. Auch die Kerninflation ohne etwa Energie wird weiter sinkend gesehen. Wenn die EZB die Leitzinsen senkt, kommt sie auf oder nahe an die Null-Prozent-Grenze. Wenn die Inflation sich dem ebenfalls annähert, ist das Ende der Möglichkeiten dieser Politik erreicht.

Entsprechend einem modifizierten, in allen größeren Zentralbanken beachteten Keynesschen Makromodell wird unterstellt, dass eine Volkswirtschaft nach einem größeren Schock nicht notwendigerweise zu einem normalen Gleichgewicht zurückkehrt. Auch das alte Keynesianische IS/LM-Modell kommt zu diesem Schluss, wenn die Zinsen nahe Null sind.

James Bullard, Chef der Fed von St. Louis, hat 2010 eine Untersuchung vorgestellt, wonach es zwei Gleichgewichtspunkte gibt. Einer davon liegt im deflationären Bereich. Das stärkste Beispiel hierfür liefert das Japan der 1990er und 2000er Jahre, die Eurozone könnte nun aber auf demselben Weg sein, sagt Juan Antolin-Diaz, früher EZB, in einer darauf aufbauenden Abhandlung.

Gleichgewicht herrscht in diesem Modell an zwei Schnittpunkten der geraden, roten Fisher-Gleichung (wonach der nominale Zins gleich der Summe aus realem Zins und erwarteter Inflationsrate ist) und der schwarzen Taylor-Kurve, mit der die Zentralbanken ihr Zinsniveau bestimmen.

Unter normalen Bedingungen tendiert eine Volkwirtschaft zum “höheren” Gleichgewicht, genauso wie es in der Eurozone zwischen 1999 und 2008 der Fall war (blaue Rauten). Mit einem kleinen Schock landet die Wirtschaft bei Punkt „A“ und einer Inflationsrate von etwa einem Prozent. Der Zins liegt unter dem Fisher-Gleichgewicht, aber über der Taylor-Regel, also senkt die Zentralbank ihren Leitzins deutlich ab. Die Arbeitslosigkeit nimmt daraufhin ab, die Inflation zu. Die Zinsen steigen, die Wirtschaft expandiert bis sie zum Gleichgewicht zurückgefunden hat.

Ist der Schock aber viel größer, wird die Wirtschaft an Punkt “B” befördert. Die Inflation kommt auf 0,5%, die Zentralbank senkt ihre Leitszinsen auf Null. Der Spielraum der Zinssenkungen ist damit ausgeschöpt. Die realen Zinsen beginnen zu steigen. Das Unvermögen der Zinspolitik, zu reagieren (mit negativen Leitzinsen) führt in diesem Modell zu einer unbeabsichtigten restriktiven Geldpolitik. Die Wirtschaft geht daraufhin in das deflationäre Gleichgewicht, dem sie schwer entkommen kann (violette Kreise). Insbesondere wenn die Investitionen zurückgehen oder die Sparneigung aus Vorsichtsgründen zunimmt, verschiebt sich die rote Fisher-Gerade nach unten.

Das Modell scheint die Erfahrungen aus Japan zu bestätigen, wonach es ein stabiles deflationäres Gleichgewicht geben kann. Bullard hatte seinerzeit in seinem Papier den Schluss gezogen, das Versprechen, die Leitzinsen tief zu halten, könnte bei einem negativen Schock kontraproduktiv sein, weil es einen permanent niedrigen nominalen Zins unterstützt. Eine bessere Antwort sei dann die Ausdehnung der QE-Maßnahmen. Genau das hat die Fed dann später getan.

Draghi scheint in seiner Weigerung, eine deflationäre Falle zu sehen, davon auszugehen, dass der normale Gleichgewichtsprozess intakt ist, was normale zinspolitische Maßnahmen nahelegt, schreibt Davies. Er hat starke Zweifel, dass Draghi recht hat.

Das von Davies zitierte Modell ist insofern interessant, weil es einerseits Einblicke in die "Denke" der Zentralbanken erlaubt und andererseits eine ökonomische Erklärung dafür anbietet, warum ein deflationäres Szenario stabil sein kann. Wie alle solche Modelle ist es aber zu sehr auf die Finanzseite der Wirtschaft fokussiert. Die Geldpolitik kann realwirtschaftliche Entwicklungen unterstützen als hinzukommende Maßnahme, aber "wenn der Gaul nicht saufen will", hilft das letztlich auch nichts. Der "Gaul", die Realwirtschaft muss kuriert werden, hier liegt das Grundproblem.

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