Wo stehen wir im Konjunkturzyklus?

(30.8.12) Hinweis: Eine aktualisierte Analyse zum Thema finden Sie hier.



Entwerfen wir zunächst ein idealisiertes Bild. John J. Murphy, Altmeister der technischen Analyse, hat Anfang der 1990er Jahre auf ein Modell von Martin Pring zurückgegriffen. Es untersucht die Kursentwicklung von drei Sektoren der Finanzmärkte, Bonds, Aktien und Rohstoffe. Jede Phase des Modells wird durch Drehung der Preisbewegung eines Sektors charakterisiert. Es ergeben sich sechs idealtypische Konjunkturphasen:

In Phase 1 herrscht Rezession, der Rentenmarkt findet seinen Boden. Die Anleihekurse drehen nach oben, Aktienkurse und Rohstoffpreise fallen weiter. In Phase 2 lässt die Dynamik des Konjunkturabschwungs nach, die makroökonomischen Frühindikatoren stabilisieren sich allmählich. Die Zinsen geben deutlich weiter nach. Der Aktienmarkt erreicht seinen Boden, die Kurse drehen nach oben. Die Rohstoffpreise setzen ihre Abwärtsbewegung fort. Die Phase 3 bringt den Übergang in den Konjunkturaufschwung. Die Rohstoffpreise finden ihren Boden und schwenken in einen Aufwärtstrend ein. Die Aktienkurse legen weiter zu. Die Zinsen fallen noch weiter, Anleihekurse steigen noch weiter.

In Phase 4, dem konjunkturellen Aufschwung, zieht die Inflationsrate an. Zu Beginn dieser Phase erreichen die Zinsen ihren Tiefstand und steigen dann an, i.d.R. begleitet von ersten Zinserhöhungen der Notenbanken. Die Anleihekurse fallen, die Aktienkurse legen weiter zu. Die wirtschaftliche Belebung zieht die Rohstoffpreise hoch. In Phase 5 lässt die Dynamik des Aufschwungs nach. Die zunehmende Inflation führt zu weiteren Leitzinserhöhungen. Der Aktienmarkt erreicht seinen Gipfel. Rohstoffpreise und Zinsen steigen weiter, Anleihekurse fallen weiter. Die Phase 6 bezeichnet den Übergang in die Rezession. Die Rohstoffpreise gehen auf Talfahrt. Die Anleihekurse fallen noch weiter, die Zinsen steigen noch. Auch die Aktienkurse geben nach. Alle drei Asset-Klassen befinden sich in einer Abwärtsbewegung.

Das Pring-Modell beschreibt eine idealtypische Rotation zwischen den drei betrachteten Segmenten der Finanzmärkte. "An Hoch-, sowie an Tiefpunkten beginnen Anleihen als erste, Aktien als zweite und Rohstoffe als dritte zu drehen", stellt Murphy fest, die Umkehr des Bondmarktes werde gewöhnlich durch eine Drehung der Rohstoffmärkte in die entgegengesetzte Richtung ausgelöst.

Das Modell ist Grundlage für den Chart:

Allerdings ist die Phase 6 nach Pring/Murphy hier die Phase 0 – siehe den unteren Teil-Chart. Zu erkennen ist, dass das Modell bis Mitte der 1990er Jahre in der aufsteigenden Abfolge der einzelnen Phasen recht gut funktionierte (Pfeile). Bis dahin waren in den Finanzmärkten deutliche Zyklen von drei bis vier Jahren Dauer festzustellen, nach 1995 ist eine solche Abfolge eines idealtypisches "Pring"-Musters in dieser Darstellung nicht mehr ohne weiteres erkennbar.

Warum das so ist? Ich denke, dass liegt an der zunehmend expansiven Geldpolitik der Notenbanken (Fed) mit den daraus folgenden Verzerrungen bei den Assetpreisen, einschließlich Kreditblasen und den Folgen. Das wird auch aus der Verschiebung der Verteilung der Phasen deutlich. Ab 1995 sind die Phasen 0 (6), 2 und 5 unterrepräsentiert, 1 und 3 sind überrepräsentiert, jeweils im Vergleich zur Zeit zwischen 1961 und 1994.

Nach 1995 stiegen Rohstoffe 68 % der Zeit, zwischen 1961 und 1995 war das in 60 % der Zeit so. Aktien sind nach 1995 in 80 % der Zeit gestiegen (zuvor 70 %). Anleihen legten nach 1995 in 61 % der Zeit zu (zuvor 49 %). Damit ergibt sich die deutlichste Verschiebung bei Anleihen.

Die Auswertung sieht die Konjunktur aktuell in Phase 3. Da monatlich eine Phasenauswertung erfolgt und das Erkennen einer nachhaltigen Richtung drei bis vier Monate benötigt, läuft das Ergebnis entsprechend nach. Die Auswertung der Phasen auf Tagesbasis zeigt denn auch, dass man aktuell eher Phase 4 veranschlagen sollte: Die Inflationsrate zieht an, die Zinsen beginnen zu steigen, die Anleihekurse fallen, die Aktienkurse legen weiter zu. Die Rohstoffpreise steigen.

Murphy rät, in dieser Phase Anleihen und zinssensitive Aktien in den Depots deutlich zu reduzieren. Gold und goldorientierte Anlagen als Absicherung gegen Inflation kommen nach Murphy schon früher (in Phase 3) in Betracht.

Mit zinssensitiven Aktien sind bilanzschwache Unternehmen gemeint, gewöhnlich solche mit einer hohen Fremdkapitalquote. Dies ist gegenwärtig schön zu sehen: Große Aktienindices aus den entwickelten Industrieländern sind gefragt, Aktien aus den Emerging Markets seit dem Jahreswechsel nicht mehr: ETFs auf den MSCI-World (siehe Chart!), noch deutlicher auf den DAX (siehe Chart!) sind gefragt, ein ETF auf Emerging Markets nicht (siehe Chart!), erst recht auf Lateinamerika nicht (siehe Chart!).

Auch das Bild des Kursverlaufs bei Anleihen entspricht der "Phase 4", wie der Chart eines ETFs auf Unternehmensanleihen zeigt (siehe Chart!).

Da die Märkte jedoch seit 15 Jahren vom idealtypischen Muster abweichen, zieht aber auch das, was Murphy hierzu schrieb: Der Anleger wird "darauf aufmerksam gemacht, dass etwas nicht stimmt und gewarnt, vorsichtiger vorzugehen."

Der Blick fällt – wie sollte es anders sein? – auf Anleihen. Die hatten von der Verschiebung vor/nach 1995 ja am deutlichsten profitiert. Zudem ist das weltweite Anleihe-Segment etwa doppelt so groß wie das der Aktien – dementsprechend wichtig ist es.

Nach dem offenen Ausbruch der Finanzkrise hatte ein Run auf Anleihen eingesetzt, der die 10-jährigen Renditen in den USA bis unter 2,4 % im Oktober 2010, im Januar 2009 sogar bis auf 2,2 % herunterzog. Finanziert wurde das durch Hilfsprogramme der Notenbanken, die Regierungen verschuldeten sich und legten keynsianische Stützungsprogramme auf.

Die Unternehmen haben auf die kollabierenden Aufträge und Umsätze mit weitgehenden Kosteneinsparungen reagiert. Abgefedert durch die massiven Hilfsprogramme bewegten sich Aufträge und Umsätze rasch wieder aus dem Tal heraus. Zusätzliches Personal wurde jedoch kaum eingestellt, die Kosten blieben auch sonst unter scharfer Beobachtung. Hierdurch erholten sich die Margen sehr stark, die Unternehmensgewinne explodierten.

Die Hilfsprogramme waren auf einen Zeitraum von 12 bis 18 Monate angelegt. Jetzt sind mehr als zwei Jahre vergangen, die Realwirtschaft hat sich erholt. Die Hilfsprogramme sind nicht ab-, sondern eher noch aufgebaut worden, laut Fed und anderen Notenbanken kann die Wirtschaft immer noch nicht ohne extrem niedrige Zinsen zurechtkommen. Die Arbeitslosigkeit ist weiterhin zu hoch für einen selbstragenden Aufschwung, viele Staaten haben keine Finanzreserven mehr.

Die Fed wünscht sich in dieser Situation ganz offen Inflation herbei. Auch in Europa zeigt der untergehende Stern von Bundesbank-Präsident Weber als Kandidat für die Nachfolge von EZB-Chef Trichet, dass "Zinsfalken" nicht erwünscht sind, die Unabhängigkeit der EZB von der Politik schon gar nicht.

Bleiben die Leitzinsen auf dem jetzigen niedrigen Niveau, kann die Inflation über Zweitrundeneffekte alsbald eine Eigendynamik entwickeln – nach dem Motto "die Geister, die ich rief, wird' ich nicht mehr los." Werden die Leitzinsen jetzt erhöht, kann das den labilen Aufschwung der Realwirtschaft abwürgen, in jedem Fall löst es einen rasanten Abverkauf von Anleihen aus.

Der könnte aber auch so kommen: Die reale Verzinsung in den USA, Deutschland und China ist mittlerweile negativ. Das steht viel weniger im Fokus der breiten Anlegerschaft als die guten Unternehmensergebnisse, die landauf, landab öffentlich breit getreten werden. Da die Notenbanken einen geordneten Übergang zu einem höheren Zinsniveau nicht bewerkstelligen können oder wollen, werden die Finanzmärkte in dieser regulierenden Rolle die Initiative früher oder später selbst übernehmen.

Zwar ist es in der aktuellen Konjunkturphase (s.o.) normal, dass Anleihen verkauft werden, aber wir haben es aktuell mit einer extremen Rentenblase zu tun. Wenn der Leitwolf fehlt, rennt die Meute durcheinander. Dann entweicht die Luft aus der Blase nicht geregelt, sondern sie platzt, und dann kann es chaotisch werden.

Anzeichen für einen Rückzug von institutionellen Investoren aus dem Rentenmarkt gibt es zur Genüge. So hat Bill Gross, Pimco, schon vor einiger Zeit gesagt, dass er sich gegen amerikanische Staatsanleihen positionieren wird. In den vergangenen Tagen war zu beobachten, dass die Renditen der 10jährigen US-Treasuries an der wichtigen Marke von 3,5 % Achterbahn fahren. Das Bild wird noch stark verzerrt durch Verschiebungen innerhalb des Laufzeitenspektrums hin zu höher verzinsten lang laufenden Bonds.

Der Bund-Future fällt seit Jahresbeginn von fast 126 auf aktuell 122,30, gleichzeitig steigt der Spread der Staatsanleihen in Europa. Der ETF auf den "iBoxxSovEuroZ" steigt nachhaltig (siehe Chart!). Gestern haben laut Eurointelligence einige große Investoren portugiesische Staatsanleihen verkauft, weshalb die Spreads einen neuen Rekord erreichten und die EZB hier intervenierte. Das weist zwar (auch) auf die spezifisch europäische Problematik hin, zeigt aber letztlich nur, was geschieht, wenn die Bonität von Staaten immer schlechter gesehen wird.

Gleichzeitig sind die Aktienkurse großer Unternehmen seit vielen Wochen fest. Mittlerweile ist ein sehr stark überkaufter Zustand erreicht, aber nach wie vor wird jeder kleine Rücksetzer gekauft. Vielleicht ist das ein Hinweis auf 1978 bis 1981 (siehe ersten Chart!). Damals, und das ist der Bogen zurück zum Anfang dieses Textes, zeigten die Finanzmärkte durchgängig das Muster der Phase 4 "steigende Rohstoffe, steigende Aktien, fallende Bonds". Es folgte ein "krachender Absturz" in Phase 0 ("alles fällt"), als die damalige große Kreditblase 1982 platzte.

Damit dürfte die beeindruckende Festigkeit der Aktienkurse ebenfalls ein Beleg dafür sein, dass Verschiebungen von Anleihen in Aktien stattfinden. Und sie ist ein Beleg dafür, dass Anleger Inflationsschutz suchen, den sie bei Aktien und Rohstoffen auch so lange finden, so lange noch "alles wird gut" an der realwirtschaftlichen Basis gespielt wird.

Anmerkung: Sollten Chart-Bilder nicht geladen werden, können sie über diesen Link abgerufen werden.

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